Atem für ein Jahr

Preise für Julia Häusermann, Sandra Hüller

  • Lesedauer: 4 Min.

In der Beschreibung von Schauspielern, so Alfred Kerr, offenbare der Kritiker seine »Sehnsucht nach der eigenen Romangestalt«, da sei er zwar noch lange nicht selber ein Erzähler, aber doch immerhin Nach-Erzähler, und ohne diese Leidenschaft für »die Nachempfindung des Spiels« bleibe Kritik »fleischlos und unsinnlich«.

Kerr ist der Namensgeber für den Preis, der bei jedem Theatertreffen für eine herausragende Leistung des jungen Schauspiels vergeben wird. Am gestrigen Montag wurde der Preis verliehen - an Julia Häusermann, geboren 1992. Sie ist eine der Mitwirkenden in »Disabled Theater« von Jérôme Bel, eine Koproduktion des Theaters HORA mit dem HAU Berlin. »Disabled Theater«: junge Leute mit Downsyndrom oder Lernbehinderung als Protagonisten eines provozierend souveränen Spiels vom Selbstbewusstseins, zu leben, zu lieben, zu leiden. Und Julia Häusermann? Kraft als Stoß und Stau, Witz als Wildheit und große Sanftheit wie ein Nest, in das sich alle Trauer der Welt legt.

Auch der 3sat-Preis wird alljährlich an darstellerische Leistungen vergeben - diesmal bekam ihn Sandra Hüller für ihre Rolle in »Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.« von Elfriede Jelinek, Münchner Kammerspiele, Regie: Johan Simons. Das Porträt der Münchner Luxusmeile Maximilianstraße. Gunnar Decker in seiner nd-Rezension zum Theatertreffen: Hüller - als verzweifelte Verirrte, die Mode und Shopping für Erlösung hält - offenbare ihren Untergang im totalen Schein »zwischen wegwerfenden Gesten und verwunderter Anverwandlung. Sie kann diesen Jelinekschen Text von den Kleidern, die einen nicht retten werden, so sprechen, dass diese eigenartigen Volten wie Schicksalsschläge klingen: die Sätze laufen regelmäßig wieder zurück wie die in der Brandung sich brechenden Wellen ins Meer. Dabei kehrt sich ihr Sinn jedes Mal um.«

Das 50. Theatertreffen ging mit diesen Preisvergaben zu Ende. Es war keines der heftigen Diskussionen, keines der sprengenden Formen, keines der lustvollen Entgrenzungen. Ein Resümee muss bemüht wirken, wenn es denn mehr sein wollte als nachmalige Aufreihung. Michael Thalheimers »Medea« verdient vielleicht deshalb noch einmal Erwähnung, weil eine der unbegreiflichsten Gestalten der Weltdramatik noch nie so konsequent kalt gezeigt wurde. Als wolle die Aufführung sagen: Schon wer sich nur ansatzweise bemüht, diese Mörderin Mutter zu begreifen, wäre Komplize einer Tat, die durch keine noch so große Entwürdigung Medeas als gerechtfertigt erscheinen kann.

Christa Wolf sprach von einer »Gestalt, die sich aus dem Dunkel der Verkennung lösen will«. Es gibt nichts zu verkennen: Der Kinderdoppelmord tötet, seit Thalheimer, einen jeglichen Gedanken, der verstehen, erklären, her zu unserer modernen Interpretationsklugheit führen will. Und stottere niemand was vom bittersten Preis, und er sei doch bezahlt worden für die »Emanzipation«, die einem hier nur wie ein Ideologieklumpen anmutet. So gesehen, ein grausam aufklärender Abend.

Beim Theatertreffen prallt das Bundesweite und Angrenzende (Zürich diesmal) auf die Berliner Schnauze, die ungern »Bravo« ruft. Das Berliner Publikum ist immer die elfte ausgewählte Inszenierung, die unbedingt bemerkt werden will, ohne jedes Mal auch wirklich »bemerkenswert« zu sein (wie ja das einzige Auswahlkriterium fürs Treffen lautet).

Sei's drum: Auch Pfiffe zeigen des Theaters größte Potenz - die Verstörungspotenz. Zustimmung und Abnicken können wir uns woanders billiger holen. Theater aber soll dem Staat weiter teuer zu stehen kommen, auch wenn manches Theater, künftig wie schon immer, nur Kopfschütteln hervorruft. Subventioniertes Kopfschütteln ist besser als subventioniertes Schenkelklopfen.

Über das Theatertreffen sagte die großartige Schauspielerin Bibiana Beglau dieser Tage: »Theater haben wir doch schon immer gemacht: im Haushalt mit Bratpfannenwerfen und Tellerknallen - ohne Geld oder auf der Bühne gegen Geld, dann sind auch die Bierkrüge aus Zuckerglas, und der Mond ist aus Papier. Im besten Fall bleibt, wenn wir das Theater verlassen, ein starkes Gefühl, eine warme oder kalte Hand, welche uns in die Wirbelsäule gefasst hat und zudrückt. Theater als Abgleich zweier Welten in ewiger Wiederholung - als müssten wir die gleichen Geschichten immer wieder erzählen, weil nichts passiert im Leben oder zu viel passiert zwischen dem Moment von Bewusstwerden und Demenz.«

Wunderbar gesagt. Der Atem dieser Sätze reicht bis zum 51.

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