Ein Leben in Grenzsituationen

Gerhard Stamer philosophiert öffentlich mit ganz »normalen« Menschen. Besonders interessante Gespräche führt er dabei mit Obdachlosen.

  • Oliver Förste
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Als der griechische Philosoph Diogenes im 4. Jahrhundert vor Christus von Alexander dem Großen gefragt wurde, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne, erwiderte er sinngemäß: »Ja, bitte gehe mir aus der Sonne.« Größere Wünsche an den damaligen Herrscher der Welt hatte Diogenes nicht. Der berühmte Kyniker lobte die Bedürfnislosigkeit und wohnte der Überlieferung nach als bekennender Obdachloser in einer Tonne. Der antike Philosoph lebte freiwillig in Armut, bewusst entschied er sich dafür, auf die Annehmlichkeiten des Wohlstandes zu verzichten, um unabhängig von materiellen Bedürfnissen seine geistige Freiheit wahren zu können.

Armut greift immer
weiter um sich
Die meisten Obdachlosen unserer Zeit leben wohl kaum freiwillig auf der Straße, aber philosophieren können sie genauso gut oder sogar besser als »Normalsterbliche«, dachte sich Gerhard Stamer, freischaffender Philosoph und Gründer des privaten Philosophie-Institutes »Reflex«. Im Hannoverschen Lokalsender Radio Flora diskutiert er einmal im Monat mit Krankenschwestern, Schülern oder eben Obdachlosen öffentlich über Philosophie im Alltag. »Ich möchte zeigen, dass alle Menschen philosophieren«, sagt er, »und die Obdachlosen wissen sehr genau, was das heißt. Sie sind so hart mit den Schwierigkeiten des Lebens konfrontiert, dass sie tatsächlich jeden Tag philosophieren, denn sie haben es mit Drogen, mit Krankheit, mit Gewalt und Diskriminierung zu tun. Sie sind, um mit Jaspers zu sprechen, unentwegt in Grenzsituationen - und wer in Grenzsituationen ist, der philosophiert. Die Ängste, mit denen sie leben - die wissen ja gar nicht, wie es weitergeht -, und der Tod ist nahe.«
Der frühere Linksintellektuelle Gerhard Stamer hat unter anderem bei Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas studiert. Heute sieht er sich als »existenziellen Idealisten«, aber auch Karl Marx spielt für ihn als Analytiker der bestehenden Gesellschaft immer noch eine bedeutende Rolle. Mit sieben Leuten, die auf der Straße leben oder früher dort gelebt haben, sitzt Stamer an einem Tisch im »Kontaktladen Mecki«, einer Anlaufstelle für Obdachlose hinter dem Hannoverschen Hauptbahnhof. Ohne Tabu fragt Stamer gleich danach, was Armut heutzutage bedeutet, und die Antwort direkt von der Straße ist erschreckend: »In den letzten Jahren sehe ich immer mehr alte Leute, die sich aus Mülltonnen ernähren, weil die Rente nicht mehr reicht; oder Leute, die sich bisher noch Zigaretten leisten konnten und jetzt anfangen, Kippen zu sammeln.« Eine andere Stimme meint dagegen, »für mich gibt es zwei Formen von Armut, die materielle und die geistige Armut. Eigentlich ist für mich die geistige Armut viel schlimmer als die materielle Armut.«
Diese Aussage kommt von Frank*, der inzwischen einen festen Wohnsitz hat und besser als die anderen mit seinem Schicksal zurecht kommt. Stamer beschreibt ihn als einen der letzten Anarchisten, der oft noch barfüßig herumlaufe. »Als ich anfangs obdachlos wurde, war das schon ein Scheitern. Da habe ich angefangen, die Frage nach dem "wahren Selbst" zu stellen,« erklärt Frank seinen Erkenntnisprozess. »Aber es war ein Glück für mich, diese Frage unabhängig zu entwickeln.«

Jeder Tag ist ein
Kampf ums Dasein
Auch Bernd kommt mit seiner Einstellung als gläubiger Christ besser mit dem Schicksal zurecht als die anderen Obdachlosen. Zur Frage nach dem Eigentum zitiert er sinngemäß eine Passage aus dem neuen Testament: »Sehet an die Vögel, sie sähen nicht, sie ernten nicht, aber trotzdem versorgt sie Gott. Wie viel mehr Euch, Ihr Kleingläubigen.« Solche Antworten erinnern an die kynische Philosophie des Diogenes, aber die fünf Anderen in der Runde halten nicht viel vom freiwilligen Armutsgelübde. Olaf schildert sein Schicksal mit den Worten: »Ich bin da mehr oder weniger reingeschlittert, auch durch die Drogen, dann kam die Kriminalität dazu, dann die Haft, das ist eine Kette, ein Kreislauf. Das ist also mehr oder weniger unfreiwillig passiert.« Und der wohnungslose Musiker Axel träumt einen bürgerlichen Traum. Er würde gerne eine Familie gründen und mit seiner Gitarre in einer Musikgruppe Geld verdienen. Dennoch betont er: »Ich bin einfach froh darüber, zu leben, wenn es auch nicht das Optimalste ist.« Ein anderer Diskussionsteilnehmer sieht seine Situation mit gemischten Gefühlen: »Natürlich bin ich mich in dieser Situation nicht zufrieden, aber ich möchte nicht so leben, wie die meisten Leute, wirklich nicht!«
Alle Menschen, die auf der Straße leben, haben Erfahrungen mit Diskriminierungen und Gewalt gemacht. Der religiös geprägte Bernd berichtet, »das gehört zum Alltag bei Behörden und so, aber ich kann damit umgehen. In den Siebziger Jahren hatte man keine Angst, auf die Straße zu gehen, heute ist das ganz anders, da hat man das Gefühl, das Leben ist weniger wert. Es braucht nur zwei Sekunden und schon ist dein Leben weg.«
Bernds eigenes Leben ist von Gewalterfahrungen geprägt, er hat Angst davor, wieder abzudrehen und gewalttätig zu werden, was ihm schon öfter zum Verhängnis wurde. Er habe in seinem Denken das alttestamentarische Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« durch die neutestamentarische Feindesliebe ersetzt, sagt er. Das helfe ihm bei Auseinandersetzungen, nicht die Beherrschung zu verlieren, aber manchmal breche die Wut noch aus ihm heraus.
Gerhard Stamer fragt nach Drogenproblemen und die Antworten sind eindeutig: »Diese Probleme haben wir alle, da könnten wir jeden Tag drüber reden«, lautet eine Antwort, und »es ist wie in einem Labyrinth, wo man heil in der Mitte ankommen muss, jeder Tag ist ein Kampf!« Frank ergänzt: »Die Droge, egal ob legal oder illegal, ist anfangs doch etwas, womit man versucht, den gesellschaftlichen Stress, in dem man sich befindet, zu vergessen. Aber letztendlich entwickelt sich daraus ja auch wieder neuer Stress, weil du die Droge besorgen musst und das Geld dafür brauchst.«
Auch die Angst spielt eine große Rolle im Leben der Obdachlosen. Jochen bezeichnet sich selbst als »Aussteiger« und verkauft das Obdachlosen-Magazin »Asphalt«, um besser über die Runden zu kommen. Er besitzt einen Hund, und fürchtet sich vielleicht deshalb weniger vor Gewalt, aber »ich habe Angst davor, dass die Regierung irgendwann den Leuten kein Geld mehr zahlen kann, und dass dann noch mehr Leute auf der Straße leben und versuchen, ums Überleben zu kämpfen.« Und Olaf fürchtet sich davor »wieder in diesen Kreislauf zurück zu fallen: Haft, Kriminalität und so, wo ich jetzt nicht mehr bin. Ansonsten hätte ich noch Angst davor, krank zu werden und auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, oder dass meiner Mutter etwas passiert.« Frank dagegen zeigt sich auch in dieser Frage abgeklärt: »Ich weiß gar nicht, wovor ich noch Angst haben sollte. Ich habe nichts zu verlieren außer meinem Leben, und wenn ich das verloren habe, dann kann mich das sowieso nicht mehr stören.«

Auch Sokrates hat auf
dem Marktplatz begonnen
Nach dem Gespräch mit den Wohnungslosen zeigt sich Gerhard Stamer beeindruckt. Seine Erwartung, dass Leute, die auf der Straße leben, durch ihre Grenzsituation tiefer über das Leben reflektieren als viele »normale« Menschen, hat sich bestätigt. »Da kam eine Menschlichkeit zutage, die nachdenklich und mitfühlend macht. Mich hat auch der Gegensatz beeindruckt, dass Einige mit ihrem Schicksal fertig geworden sind und die Weisheit der Armut und des Unterprivilegierten kultivieren, Andere dagegen ihr Schicksal als schrecklich erleben.« Für Stamer ist Philosophie keine abgehobene Theorie: »Die Philosophie hat mit Sokrates auf dem Marktplatz begonnen, und das ist ihr Nährboden. Wir Philosophen müssen viel mehr den Weg in den Alltag finden und die alltäglichen Fragen der Menschen mit der großen philosophischen Tradition verbinden. Das bedeutet, die Tradition zu verlebendigen, und unser alltägliches Nachdenken zu vertiefen.«

* Alle Namen der ...

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