Fachkräfte zum Billigtarif

Bildungsexperten fürchten angesichts der Personalnot in den Kitas um Qualität der ErzieherInnenausbildung

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.
Ab August hat jedes ein- und zweijährige Kind einen Rechtsanspruch auf Betreuung. Doch kurz vor dem Stichtag fehlen bundesweit Krippenplätze. Der Kita-Ausbau stockt, weil qualifiziertes Personal fehlt. Krankenschwestern, Grundschullehrer und ehemalige Schlecker-Verkäuferinnen sollen die Lücke stopfen.

Wer im beschaulichen Gilching lebt, hat es eigentlich gut getroffen in dieser Welt. Die Großstadt München liegt nur 20 Kilometer Luftlinie entfernt, Arbeitsplätze, mit denen man gutes Geld verdienen kann, gibt es reichlich, in die 18 000 Einwohner zählende Gemeinde zieht es vor allem junge Familien. Die Kommune im Landkreis Starnberg hat in den vergangenen Jahren viel in den Ausbau der frühkindlichen Betreuung investiert, das Angebot an Krippenplätzen ist laut Statistik ausreichend; 51 Prozent Bedarfsabdeckung meldet die Gemeinde offiziell.

Hat Ulrich Maly (SPD), Vorsitzender des Bayerischen Städtetags und Nürnbergs Oberbürgermeister, also Unrecht, wenn er meint, dass gerade in Ballungsräumen wie München sich der Rechtsanspruch für Eltern auf einen Krippenplatz nicht erfüllen lassen könne, weil es an Plätzen fehle? Nein, denn wer im Landkreis Starnberg nachfragt, erhält Auskünfte, die die offizielle Statistik in einem anderen Licht erscheinen lassen. Das liegt vor allem daran, dass dort, wo viele junge Familien mit Doppelverdienern wohnen, die Nachfrage nach Krippenplätzen höher als jene 39 Prozent ist, die von Bund und Ländern als Maßgröße für ihre Planungen genommen werden - und ebenfalls weit über den vom Bayerischen Städtetag für die städtischen Regionen prognostizierten 50 Prozent liegt.

Erzieherinnen und Erzieher

Rund 464 000 Erzieherinnen und Erzieher gibt es derzeit in Deutschland. 72 Prozent verfügen laut einer Erhebung der TU Dortmund über einen einschlägigen Fachschulabschluss, 4,6 Prozent über einen einschlägigen Hochschulabschluss. »Einschlägig« heißt: Die Inhalte der Ausbildung bzw. des Studiums entsprechen den für den Erzieherberuf erforderlichen Qualifikationen. Wie wenig Wert in der Vergangenheit auf eine ausreichend gute Qualifikation gelegt wurde, beweist der immer noch relativ hohe Anteil von KinderpflegerInnen, SozialassistentInnen und anderen Helferberufen von bundesweit 13,1 Prozent. 2,5 Prozent derjenigen, die in der frühkindlichen Bildung und Betreuung arbeiten, haben überhaupt keinen Berufsabschluss.

Unrühmliches Negativbeispiel in der Statistik ist Bayern. Dort verfügt nur jede/r zweite/r ErzieherIn über einen Fachschulabschluss (51,8 Prozent), 3,6 Prozent haben einen einschlägigen Hochschulabschluss, mehr als ein Drittel (37,3 Prozent) kommen aus den geringer qualifizierten Helferberufen. Wenig vorbildlich ist auch das Bundesland Hessen; dort sind 6 Prozent des pädagogischen Personals in den Kitas ohne Berufsausbildung - bundesweiter Spitzenwert! Abhängig vom Alter, der Berufserfahrung und der Tätigkeit verdienen Erzieherinnen zwischen 1900 und knapp 3000 Euro brutto monatlich. Allerdings gelten diese Zahlen für eine Vollzeitstelle, die Mehrzahl der ErzieherInnen (60 Prozent) arbeitet laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung auf Teilzeitstellen. Während im Osten der Republik die Quote in den vergangenen Jahren von 82 auf 75 Prozent gesunken ist, hat sich die Teilzeitbeschäftigung im Bereich der Kitas im Westen im gleichen Zeitraum sogar noch erhöht; lediglich jede dritte Stelle, die seit 2006 in den westlichen Bundesländern neu geschaffen wurde, ist eine Vollzeitstelle.

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In Gilching spürt man den Andrang besonders deutlich. Zur Zeit gibt es 126 Anmeldungen für insgesamt 43 freie Krippenplätze. Deutschlandweit wird die Angebotslücke bei den Krippenplätzen auf über 200 000 geschätzt; von den anvisierten 780 000 Krippenplätzen fehlen also noch rund ein Viertel. Besonders in Westdeutschland ist die Situation bedenklich; der Osten mit seiner noch aus der DDR stammenden flächendeckenden Versorgung mit Kita- und Krippenplätzen kann dagegen entspannter auf den Stichtag 1. August blicken.

Einer der Gründe für den Platzmangel im Westen ist das fehlende Personal. Davon gibt es auch in Gilching nicht genug. »Im Februar wurden im Gemeindegebiet zwei neue Krippengruppen eröffnet, doch diese können mangels Erzieherinnen nicht starten«, erzählt Anna Köhler*, die mit ihren zwei Töchtern und ihrem Mann in Gilching lebt und selbst im Kita-Bereich arbeitet. Matthias Schilling von der TU Dortmund geht davon aus, dass zum 1. August 2013 in Westdeutschland mindestens 14 000 Fachkräfte fehlen werden - unter der Voraussetzung, dass 30 Prozent des Bedarfs durch privat organisierte Tagespflege gedeckt werden können. Eine Annahme, die Schilling für unrealistisch hält. Wie groß die Not ist, zeigt das Land Hessen. Dort kündigte die Landesregierung an, den Einsatz von Krankenschwestern und angehenden Grundschullehrern in Kitas zu prüfen. In Bayern werden Lehramtsstudenten (Grundschule) mit erstem Staatsexamen schon heute für den Kita-Bereich umgeschult.

Reichen werden diese Anstrengungen aller Voraussicht nicht. Zuständig für die Bedarfsplanung sind die Kommunen und Landkreise, und die müssen sich darauf einstellen, dass vor allem in den Großstädten mit einem hohen Anteil berufstätiger Eltern der Rechtsanspruch vor Gericht eingeklagt wird. Doch, wo kein Krippenplatz ist, schafft auch eine Klage keinen. Allerdings könnte ein Verwaltungsgericht eine Kommune dazu anhalten, die Auflagen zu lockern, um mehr Plätze für Kleinkinder zu organisieren. Und genau das treibt den großen Kita-Betreibern wie z.B. der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Sorgenfalten auf die Stirn. Mona Finder, Pressesprecherin der AWO, warnt die Kommunen davor, auf die befürchtete Klagewelle mit einer Verschlechterung der Qualität zu reagieren, indem sie z.B. die Gruppen vergrößern. Ähnlich argumentiert Sarah Schneider vom evangelischen Bundesverband Diakonie. Das in einigen Ländern bereits favorisierte Modell »Platz-Sharing«, bei dem sich zwei Kinder einen Krippenplatz teilen, werde zu einer »erhöhten Belastung der Fachkräfte führen«, selbst wenn statistisch gesehen keine Verschlechterung erfolge.

Das Qualitäts- und das Quantitätsproblem treibt derzeit auch Ruth Müller um. Die Erzieherin hat vor einigen Jahren im Berliner Bezirk Lichtenberg die Kita »Milchzahnbande« gegründet. Von Anfang an waren Ein- und Zweijährige in der Einrichtung. Derzeit ist die Nachfrage für diese Altersgruppe so hoch wie nie zuvor - für die 13 freien Plätze gibt es 280 Anmeldungen. Die Einrichtung expandiert, demnächst wird man eine zweite Kita mit weiteren 40 Krippenplätzen errichten.

Ruth Müller könnte also zufrieden sein, ist es jedoch nicht. »Wir haben mit zwei Problemen zu kämpfen«, berichtet sie. Zum einen mit dem bürokratischen Prozedere, bis eine neue Kita genehmigt ist, zum anderen - und das ist das weitaus größte Problem - mit der Personalfrage. »Von den Arbeitsagenturen bekommen wir umgeschulte ehemalige Schlecker-Verkäuferinnen geschickt, die Mehrzahl davon ist für den Beruf nicht geeignet«, klagt sie. Ruth Müller macht dafür nicht die Bewerberinnen, sondern die Arbeitsagenturen verantwortlich. »Die Ausbildung erfolgt im Schnelldurchgang, die Lehrgangsabsolventinnen hatten zu wenig Gelegenheit, die Eignung für den Erzieherinnenberuf in der Praxis selbst zu überprüfen; der Unterschied zu den Schülern der Fachakademien ist enorm.«

Berlins Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Sandra Scheeres (SPD), setzt dagegen weiter auf den Seiteneinstieg, dieser sei »eine tragende Säule bei der Gewinnung von Fachkräften für die Kindertagesbetreuung«. Anders formuliert: Der Berliner Senat hat - wie alle Bundesländer - in den vergangenen Jahren zu wenig in die Regelausbildung von Erzieherinnen und Erziehern investiert. »Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt, einige hundert Stellen sind überhaupt nicht oder mit Kolleg/innen besetzt, die (noch) nicht die staatliche Anerkennung als Erzieher/-in haben«, kritisierte die Berliner GEW bereits vor Jahresfrist.

Das hat auch Norbert Hocke festgestellt. Der Kita-Experte der Bundes-GEW appelliert an die Politik, bei der Suche nach neuen Kita-Fachkräften die Ausbildungsqualität gerade im Bereich der Quer- und Seiteneinsteiger nicht zu vernachlässigen. »Wenn die Politik angesichts des Personalmangels in den Kitas nur das Plansoll erfüllen will, kommt es zu einer Dequalifizierung des Erzieherberufs«, fürchtet Hocke.

Siegfried Beckord vom Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Fachschulen für Sozialpädagogik (BöfAE) warnt ebenfalls davor, nur auf Quer- und Seiteneinsteiger zu setzen. »Das Fachkräfteproblem in den Kitas würde sich relativieren, wenn es gelänge, jene Erzieherinnen wieder zurück in den Beruf zu bringen, die wegen der schlechten Rahmenbedingungen ausgestiegen sind«, meint der Leiter des Berufskollegs der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bielefeld. Beckord schätzt, dass 30 Prozent bereits in den ersten drei Berufsjahren dem Job den Rücken kehren. »Vor allem die Teilzeitarbeitsverträge sind wenig attraktiv«, sagt er.

Angesichts solcher Perspektiven ist es kein Wunder, dass es junge Menschen nicht in Scharen in den Beruf treibt. An der Fachakademie für Erzieher in München sind derzeit 60 Ausbildungsplätze unbesetzt, obwohl in diesem Jahr jeder Bewerber aufgenommen wurde. Anna Köhler hat das Glück, einen gut verdienenden Ehemann zu haben und mit Mitte 40 keine Berufsanfängerin mehr zu sein. Jüngeren Kolleginnen geht es deutlich schlechter. Viele hätten noch einen Zweitjob, um finanziell über die Runden zu kommen, schildert sie deren Situation. Nicht jeder der in Gilching und Umgebung lebt, hat es gut getroffen in dieser Welt.

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