Sehr lieb ist mir das ...

Poesiealbum: Norwid

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Schon der Name hat Lust auf Rätsel. Cyprian Norwid. Welchem Land ordnet man ihn zu? Da ist einer in der Welt und gehört nirgends hin? Nordisch? Romanisch? »Sich selbst« nannte Norwid jene Feder- und Kreidezeichnung, die zum Titelbild dieses »Poesiealbums 305« wurde. Da steht der Dichter auf einer ausgerollten Europa-Karte, sieht aus wie ein von Abenteuern gegerbter Reisender, drei Hunde kläffen ihn an, aber er fühlt sich sinnend sicher, auf dieser Karte stehend. Sicher im Überall, im Niemandsland, im Heimatlosen.

Cypian Norwid, 1821 in Masowien geboren, lebte in Warschau, Krakau, Dresden, Nürnberg, München, Venedig, Florenz, in Preußisch/Polen, in Berlin, in Brüssel, in Rom, in Paris, in New York - 1883 stirbt er in einem polnischen Altersheim bei Paris. Dichter des Umtriebs. Ein Poet, der nur eines an jeden seiner Orte mitschleppte: die Armut. Und ein Schriftsteller, den man erst nach seinem Tode als einen Pionier der polnischen Moderne feiern wird.

Es schwingt antik in diesen Gedichten, und zugleich bricht eine kecke Lakonik diesen Schwung auf. Norwid ist Melancholiker, aber auch kühler Beobachter. Finsternis und Ekstasen des Lichts bilden gemeinsam das Vollkommene, das sich freilich zu keinem beruhigten, abgerundeten Bild fügen will. Hier weiß einer vom tiefen Zerwürfnis des Lebens mit dessen begrenzten Bedingungen: »Man sagt, der Fortschritt bereichere uns Ära um Ära;/ Sehr lieb ist mir das, und angenehm:/ Leider! erfreu ich mich Tag um Tag weniger an mir,/ Ich sterblicher Mensch!« In einem einzigen Vers die gesamte Tragödie des utopischen Denkens: Es entwirft künftige Welten mit einem Pathos, das mit gleicher Energie sich selber abwürgen muss - zu traurigen Diensten jener nüchternen Einsicht, dass Sterblichkeit alles Träumerische durchkreuzt. Was den Dichter nicht abhält, sich »ein Stückchen Regenbogen an die Schärpe« zu stecken.

Es sind betörend kräftige, philosophisch-fragend umhergehende Gedichte, vom Zorn auf die Welt geworfen, von Liebe auf der Welt gehalten. Leben ist Wandern, ist Weihe und Weinen - und dann wieder Warten, ohne aber vom Wandern abzusehen, »bis der Tag kommt … da der Zorn, der die Tafeln zerschlug,/ Zum Feuer wird, welches erschafft:/ Wird das Verstreute zusammentun/ Und ein heiteres Antlitz zeigen.«

Dieser Dichter ist eine Entdeckung. Seine Lyrik ist Raum für Zweifel, Ahnung, Hoffnung - und auch Heilung von zu viel Hoffnung.

Poesiealbum 305: Cyprian Norwid. Auswahl von Rolf Fieguth. Grafik: Cyprian Norwid. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., brosch., 4 Euro.

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