Das Meer: ein fremdes Tier

Urlaubslektüre: Achtzehn Autoren haben sich an salzwasserhaltigen Geschichten versucht

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein »Rollen, ein Murmeln, irgendwie monoton«, so hat Jochen Schimmang das Meer gehört, Aber: »es spricht nicht zu uns«. Mag es auch ruhig sein, es bleibt »ein fremdes Tier«.

Von der Lust, solcher Fremdheit zu begegnen (und sich dabei womöglich selbst zu finden), vom Wage- oder Todesmut, »diese ganze ausgestellte Unendlichkeit« gar bezwingen zu wollen, handeln die Geschichten dieses Bandes. Herausgeber Jan Christophersen, 1974 in Flensburg geboren, dem Meer also von vornherein nahe, beschreibt an Stelle eines Vorworts einen Segeltörn auf der Ostsee, bei der er ziemlich durchgeschaukelt wurde. Hat er in Wind und Regen wirklich an jene Salzwasser-Manuskripte gedacht, die ihm von verschiedenen Autoren zugeschickt worden waren? Sei es, wie es sei. Als Lektüre - vielleicht gar während eines Urlaubs am Meer - ist das Buch bestens geeignet. Ein paar Seiten lesen und dann selber aus der Sonnenwärme ins kühle Nass steigen. Das ist, Gott sei Dank, nicht so kalt, wie das, was John von Düffel kunstvoll beschreibt, der wohl am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, über die »Eisschwelle« zu gehen.

Grenzerfahrungen - davon liest man gern, wie um sie sich selber zu ersparen. Da hat sich Ulrike Draesner in einen Kanalschwimmer versetzt. Quälerei, um eine andere Qual zu besiegen. Aber wenigstens wird dieser Basil am Leben bleiben, während der anerkannte Wissenschaftler Dr. Kummerbund bei Thomas Platzinger und ein namenloser Unternehmer bei Roger Willemsen - der eine in Vancouver, der andere auf Madeira - im Meer verschwinden. Lebensüberdruss oder Müdigkeit? »Es dämmerte ihm etwas wie Bewusstsein«, schreibt Willemsen, »aber es war das Symptom einer Störung, ja, es war eine Wunde, die dauernd Bitterstoffe abgab.«

Doch keine Sorge, Bitteres ist hier gekonnt mit Süßem gemischt. Gerade in der Liebe, wer weiß das nicht, geht doch eins ins andere über. Da kann es geschehen, dass eine Flaschenpost in falsche Hände gerät, aber Frank Schulz lässt es nicht zur Katastrophe kommen. Oder ein Wohnwagen fällt ins Meer, vorher allerdings hat es eine Umarmung gegeben, die Ulla Hahn an unsere Phantasie verweist.

Dass der Tod durch Liebe zu besiegen sei - ewige Sehnsucht, die Artur Becker gekonnt in einem 19-jährigen Polen spiegelt. Jener Konrad staunt selbst über seine Leidenschaft für eine verheiratete deutsche Frau, die seine Mutter sein könnte. Die Aussichtslosigkeit ist um so tiefer, weil Christina unheilbar an Krebs erkrankt scheint. Konrad will es nicht wahrhaben. »Bevor er mit seinen Eltern nach Westdeutschland kam, hatte er nicht gewusst, dass es auch im Westen den Tod gab ...«

Das Eigene und das Andere: »Matrosen der Schweiz« nennt Jens Sparschuh Menschen, die immer glauben, am falschen Ort zu sein, die ihre Sehnsucht, ihre Verlorenheit vor anderen verbergen müssen. Aber vielleicht geht es ja sehr vielen so. Vielleicht ist es eine Metapher für das Leben überhaupt, das voller Ambivalenzen ist, voller Ambitionen, so besonders für den Einzelnen und so allgemein-gemein endend, wenn das Gehen zum Schwanken wird wie »über die glitschigen Planken des Decks« und schließlich jeder, jeder »von einer gewaltigen Strömung, einem unheimlichen Sog gezogen ... von Strudeln hinabgezogen« wird ...

Meeresgezeiten auch in diesem Buch: Ebbe und Flut, Wellenkämme des literarisch Ambitionierten, dann wieder ruhiges Wasser, in dem sich leicht schwimmen lässt. Das Meer inspiriert zu den verschiedensten Erinnerungen - geschichtsträchtigen wie bei Claudia Rusch und Tanja Dückers - oder ganz privaten an Jugendwünsche und -abenteuer am Strand von Saloniki oder in einer dänischen Hafenkneipe. Das meiste wird extra für diesen Band geschrieben worden sein. Herausgeber und Verlag begnügten sich nämlich nicht mit einer Zusammenstellung von Textauszügen zum Thema, wie es bei literarischen Sammlungen nicht selten ist. Es sind wirklich 18 in sich geschlossene Erzählungen, Erstveröffentlichungen von bekannten Autorinnen und Autoren der mittleren und jüngeren Generation. Lesenswert alle.

Ein extraherrlicher Meersommerabend. Achtzehn Geschichten mit Salzwasser. Herausgegeben von Jan Christophersen. Mare Verlag. 286 S., geb., 18 €.

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