»Ich war ein glückliches Mädchen ...«

Töchter des Exils - Lebensbahnen an rettenden Ufern

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: ca. 8.5 Min.

Viele von ihnen waren sehr jung, als sie mit einem Kindertransport oder mit ihren Eltern rettende Ufer erreichten. Einige von ihnen wurden auf dem bitteren Fluchtweg in einem der Durchgangsländer oder später im Exil geboren. Die Töchter wussten nicht, wie ihnen geschah, wussten nicht, wo ihre Großeltern, Onkel und Tanten geblieben sind. Oft verschwiegen ihnen die Eltern die schlimmen Verluste, die deutsche Faschisten ihren Familien zufügten - aus Sorge um die Psyche der heranwachsenden Mädchen. Das Exil wurde für manche zur Katastrophe, für einige aber auch zur Chance, wie unlängst auf einer Tagung der AG Exilfrauen in der Gesellschaft für Exilforschung in der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin zu hören war. Die Einladungskarte zeigt eine Arbeit der argentinischen Malerin Mónica Weiss, auf der zwischen den Großbuchstaben MUTTER und TOCHTER Verständigung via Fingersprache versucht wird: Die Tochter fragend, die Mutter stumm...

Die immer mild und weise lächelnde Ilse Eden, Großnichte der bedeutenden deutschen Sozialpädagogin Alice Salomon, wollte im Exil nie bemitleidet werden - obwohl sie aus ihrer Heimat vertrieben und ihr Vater, erfolgreicher Rechtsanwalt in Berlin, vom Holocaust verschlungen wurde. Ilses Mutter Edith, die aus dem Oderstädtchen Schwedt stammte, fühlte sich lebenslang schuldig, weil sie ihren Mann zurück gelassen hatte. Tochter Ilse kam wenige Tage nach dem Novemberpogrom von 1938 als Zehnjährige mit einem Kindertransport nach Großbritannien, wurde von einer Quäkerfamilie aufgenommen und erlebte das Ende des Krieges im Internat. An höhere Bildung war indes nicht zu denken. Nach dem Krieg ging sie mit ihrer Mutter nach Kalifornien, fasste in Berkeley Fuß, heiratete und zog zwei Kinder groß. Enkelin Jennifer, Naturwissenschaftlerin, erfuhr von ihrer Mutter nichts von den Schrecken unterm Hakenkreuz, der Bezug der Eltern zum Holocaust blieb eine Art »Familiengeheimnis«. Sie suchte selbst nach Antworten, aber erst jetzt versteht sie richtig, was die Erfahrung von Entwurzelung bedeutet. Als sie davon erzählt, kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, ihre Mutter geht zu ihr, tröstet sie behutsam. »Die Geschichte meiner Familie ist eine Geschichte schmerzlicher Anpassung an den Verlust«, interpretiert Ilse Eden das Leben nach dem Holocaust im fremden Land. Lange Jahre musste sie jeden Cent zwei Mal umdrehen, ehe sie ihn ausgab, fand schließlich in der Sozialarbeit für Kriegsveteranen einen Lebensinhalt, der die 77-Jährige noch heute ausfüllt. Unlängst erst hat sie einem der Veteranen des Zweiten Weltkrieges, die gegen Hitlerdeutschland kämpften, eine kleine Feier zum 100. Geburtstag ausgerichtet. Längst hat sie auch frühere Vietnamkrieger zu betreuen, und vielleicht muss sie auch noch einen der Irakeroberer umsorgen, die ja schon, sagt sie, hie und da in den Krankenhäusern ringsum liegen. Obwohl bereits 87 hat auch die Norwegerin Sonja Thomassen den weiten Weg in ihre Heimatstadt Berlin nicht gescheut. Ähnlich Ilse Eden ist die Älteste in der Runde zurückhaltend, bescheiden, sie tritt nicht ans Pult - hat indes viel zu erzählen und spart dabei nicht mit Selbstironie. Ihre Mutter Lisa Matthias hatte sie bereits 1932 zu den Großeltern nach Stockholm geschickt. Die Journalistin, die eine stürmische Affäre mit Kurt Tucholsky hatte (der Meister mit den 5 PS verewigte sie in den Lottchen-Geschichten und als Lydia in »Schloss Gripsholm«), packte im März 1933 alles zusammen und floh ebenfalls nach Schweden - allerdings nicht zu ihrem Ex-Geliebten, der bereits seit 1930 in der Nähe von Göteborg lebte. Auch wenn die Großeltern ein gewisses soziales Hinterland boten, Mutter Lisa hatte als Emigrantin erhebliche Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen und den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. »Von meiner Mutter habe ich gelernt, dass im Leben Realitäten zählen, nicht Sentimentalitäten«, fasst Sonja die Erfahrungen jener Exiljahre zusammen. Dem Heimatverlust folgten viele andere Verluste. So blieb auch Sonja eine akademische Laufbahn versagt, die sie - jahrelang Zögling eines Internats in Lugano - unter anderen Umständen vielleicht eingeschlagen hätte. Nach einem Kurzlehrgang auf einer Handelsschule arbeitete sie als Sekretärin. 1943 konnte sie ihren deutschen Pass, in dem noch kein »J« eingestempelt war (das hatten die Schweiz und Schweden von den Nazis erbeten, um Juden schneller abweisen zu können), in einen schwedischen tauschen. In jenen Kriegsjahren traf sie mit vielen Schwedinnen und Schweden zusammen, die sich um politische Emigranten kümmerten. Und schließlich sollte einer der Flüchtlinge, ein norwegischer Student, ihr Schicksal werden. Bereits im Juni 1945 kam sie, frisch verheiratet, in einem überfüllten Rückkehrerzug mit ihrem Mann in Oslo an. Auch sie will keinesfalls als Opfer gelten - sie hat viele Jahre ihren Mann als Buchhändlerin und Mitarbeiterin der Universität Oslo gestanden. Aber mitunter wird die Frau, die sich als Europäerin fühlt und mit den kulturellen Novitäten des Kontinents vertraut ist, von den Schatten der Vergangenheit eingeholt. So traf sie auf der Fähre nach Kiel einen norwegischen Gutsbesitzer, der ihr vorschwärmte, seine schönsten Jahre habe er im Kaukasus in der deutschen Wehrmacht - in der Waffen-SS - verbracht. Da fragte sie spitz: »Waren sie auch in Stalingrad dabei?« Auf sein irritiertes »Nein« entgegnete sie »Schade« und wandte sich abrupt ab. Heute lehrt sie Exilgeschichte. Anders als Ilse Eden oder Sonja Thomassen ist Catherine Stodolsky eine Exiltochter im engeren Sinne des Wortes. Sie ist 1938 in der französischen Emigration geboren, just im gleichen Pariser Haus, in dem auch der deutsche Kulturphilosoph Walter Benjamin Unterschlupf gefunden hatte. Und schon dies zeugt von den vielen Verflechtungen ihrer Lebenslinien mit denen ihrer Tante Lisa Fittko, die als antifaschistische Fluchthelferin Benjamin und viele andere Emigranten über einen geheimen Schmugglerpfad vom französischen Banyuls-sur-mer ins spanische Port Bou schleuste. Als Lisa Fittko 1949, aus ihrem kubanischen Exil kommend, in Catherines neuer Heimat Chicago eintraf, erschloss sich dem Teenager eine neue Welt und - sie erhielt Antworten auf viele ihrer Fragen. »Als ich 13 war, habe ich meine Mutter gefragt, warum die Nazis in Deutschland an die Macht kamen«, berichtet Catherine. »Ich weiß nicht, keine Ahnung«, reagierte die Mutter abweisend. Sie wollte nicht über die alten Leiden, über Verfolgung und Holocaust reden. »Das hat unsere Beziehung sehr belastet«, sagt die Tochter nicht ohne Bitterkeit. Eines Tages nahm Lisa ihre junge Nichte auf eine Reise zu jenen Stätten in den Pyrenäen mit, wo sie unter Lebensgefahr deutsche Emigranten rettete - eine Fahrt, die nicht ohne Folgen bleiben sollte: Catherine studierte Geschichte und lehrt heute u. a. Exilhistorie Nazideutschlands an der Universität München. Als »Ersatzmutter« allerdings möchte sie Lisa Fittko nicht stilisieren, »das wäre übertrieben«. Aber sie hat ihr, anders als die Eltern, die weiter in der europäischen Vergangenheit lebten und der Berührung mit der USA-Gegenwart aus dem Wege gingen, Wirklichkeitssinn, Stärke und Zuversicht vermittelt. »Lisa ist weniger beschädigt aus dem Exil herausgekommen als andere», erklärt sie sich dies. »Sie war im Widerstand aktiv, ihr politisches Engagement in der kommunistischen Jugend und anderen linken Organisationen stand immer an erster Stelle.« Auch in der Emigration habe Lisa, die im März dieses Jahres hoch betagt starb, immer »zwischen Deutschen und Faschisten« unterschieden - eine Differenzierung, die ihr selbst wohl erleichterte, in München trotz Enttäuschungen über »die mangelnde Analyse der Vergangenheit« durch manche Kollegen allmählich Fuß zu fassen. »Ich habe viel Glück mit Lisa gehabt«, sagt Catherine Stodolsky und sie will es ihr danken - mit einer Biografie. Anders als die anderen Exiltöchter floh Ilana Javitz nicht in ein weit entferntes Land - sie wurde wenige Wochen nach der Zerschlagung des »Dritten Reiches« im Juni 1945 in Riga geboren; ihre Eltern - der Vater Medizinprofessor, die Mutter Philologin - hatten rechtzeitig vor den Nazitruppen in ein Dorf nahe Moskau fliehen können. Aber nach der Rückkehr in die lettische Hauptstadt mussten sie feststellen, dass die Großeltern und alle anderen Familienangehörigen wie 30 000 andere Rigaer Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. »Meine Erinnerungen an eine verlorene Welt« sind aus zweiter Hand, sagt Ilana Javitz, aber »enorm intensiv«. Wenn sie als Kind aus dem Fenster ihres Zimmers in den Park in der Gogolstraße hinaussah, wusste sie, dass dort vor dem Krieg die größte Synagoge Rigas stand; »lettische Faschisten«, berichtet sie, »haben Juden hineingejagt und darin verbrannt - in Lettland herrschte ein günstiges Klima für Judenvernichtung«. Als sie im vorigen Jahr nach drei Dezennien Riga wieder besuchte, sah sie an jener Stätte ein Mahnmal, Mauerreste, die an jenes Verbrechen erinnern sollen. Doch eine Tafel, die darüber aufgeklärt hätte, fand sie nicht - sie würden immer wieder »von Unbekannten entfernt«, erfuhr sie. Anders als ihre ältere Schwester hat Ilana in ihrer Kindheit »nichts Traumatisches erlebt - ich war ein sehr glückliches Mädchen«. Nach dem vielen Leid, das nach der Besetzung durch die Nazitruppen über Rigas Juden hereingebrochen war, sind die Kinder von ihren Eltern sehr verwöhnt worden. Während das Judentum in der Öffentlichkeit Sowjetlettlands tabu war, habe ihre Mutter im Familienkreis jüdische Kultur vermittelt, jene unverwechselbaren tragikomischen Geschichten aus dem Schtetl erzählt und jiddische Lieder gesungen. Die Mutter hat aber das Schtetl nicht romantisiert, nicht als das verlorene Paradies geschildert, sondern als einen Ort ständigen Kampfes ums Überleben. 1973 verließ Ilana Jarvitz ihre lettische Heimat und wanderte nach Israel aus, »aus ideologischen Gründen«, wie sie mir sagt. In der Wüstenstadt Beer Scheva lehrt sie heute an der Universität Germanistik und - wie einst ihre Mutter - Philologie. »Ich denke manchmal«, überlegt sie laut, »dass mein Leben lange vor meiner Geburt angefangen hat, in einer jüdischen Gemeinde, vielleicht in einem Schtetl«. Die 49-jährige Argentinierin Mónica Weiss, die jüngste Exiltochter auf dem Berliner Treffen, hat auf eine besondere Weise die Vergangenheit ihrer Familie befragt. Für ihre Großeltern - der Dresdner Getreidegroßhändler Rudolf Reizes und seine Frau - hatte die Flucht-Odyssee schon im März 1933 begonnen und führte durch die Tschechoslowakei, Österreich, Italien, Palästina via Ceylon und Südafrika Ende 1940 nach Buenos Aires. Obwohl viele Jahre nach Kriegsende geboren, lernte Mónica sehr schnell die Übel des Exils kennen. Die lange Flucht, die Entwurzelung und die schwierige wirtschaftliche Situation in der neuen Heimat veränderten den Großvater, einst ein lebensfroher Mann, auf beängstigende Weise. Auf Fragen der Tochter nach den Ursachen, nach Flucht und Holocaust, reagierte die Mutter ablehnend, es kam wenig Verständnis auf zwischen den beiden. Mónica besuchte die private deutsche Pestalozzi-Schule, die sie aber wegen des schmalen Einkommens der Familie nicht abschließen konnte. Sie legte ein argentinisches Abitur ab und begann entgegen Mutters Rat, in Buenos Aires bildende Kunst zu studieren. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, ging sie nach Paris - auch, um der Militärdiktatur in ihrem Land auszuweichen. Doch die langen Schatten der Vergangenheit begannen Mónica Weiss bald wieder zu beschäftigen. Als sie sich 1995 der argentinischen Künstlergruppe »Transit« anschloss, näherte sie sich alsbald ihrem großen Thema Verfolgung und Flucht - eine der bittersten Formen von Transit. Als die Gruppe ihre erste große Ausstellung just in jenem Gebäude am Hafen von Buenos Aires eröffnete, in dem Jahrzehnte lang alle Einwanderer registriert worden waren, erregten die ungewöhnlichen Kunstobjekte von Mónica Weiss viel Aufmerksamkeit. Ihre in verschiedenen Sepiatönen gehaltenen Collagen dokumentarischer Erinnerungsstücke - Fotos, Pässe, Stadtpläne, Tagebuchnotizen, aber auch Schuhen und Kleidungsstücken - vermitteln einen sehr intensiven Eindruck von Flucht und verlorener Heimat. In jüngeren Arbeiten - einen Großteil brachte sie nach Berlin für eine Ausstellung in der Landesvertretung Sachsen mit - kontrastiert sie Zeugnisse des Exils mit Dokumenten ihres eigenen Lebens, etwa ihrem ersten Deutschheft an der Pestalozzi-Schule. Alle Tafeln sind mit einer besonderen Maltechnik »verfremdet«. 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