Abschied von einem Relikt der Print-Ära

MEDIENgedanken: Ende des gedruckten Brockhaus-Lexikons

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

2008 wurde bekannt gegeben, dass die 2005/06 präsentierte 21. Auflage des Brockhaus vorerst die letzte gedruckte sein wird. Ab dem 15. April 2008 war die Restauflage zwar noch zu kaufen, aber gleichzeitig wurde das Lexikon vollständig und gratis ins Internet gestellt. Vor kurzem erklärte der Verlag, dass der Betrieb eingestellt wird und nur die vertraglichen Verpflichtungen aus der Online-Aktualisierung bis 2020 weiterlaufen. Viele Kommentatoren halten die 30-bändige, gedruckte Ausgabe für ein Relikt und einen elitären Luxus angesichts der schnellfingerig zugänglichen Lexika im Internet. Der Vorgang hat neben der geschäftlich-profitorientierten eine prinzipielle, wissens- und bildungsgeschichtliche Seite. Allein darum geht es, denn der Brockhaus als Geschäft ist eine reine Privatsache der Eigentümer.

Das Konversationslexikon verdankt seine Entstehung einer historischen Konstellation, die sich heute im Zeichen von Internet und elektronischer Revolutionierung der Kommunikation wiederholt. Auch die Konstellation in der Entstehungszeit des Konversationslexikons um 1810 war geprägt durch ein ökonomisches Kalkül und ein konzeptionelles Dilemma.

Ökonomisch gesehen sind die Konversationslexika des 19.Jahrhunderts die Erben der Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. Diese großen Universallexika waren allein von ihrem Umfang, intellektuellen Anspruch und Preis her nicht für ein breites Publikum bestimmt. Genau darauf schielte jedoch der Geschäftsmann Brockhaus mit seiner schlichten Rechnung: von den 100 Millionen deutschsprachigen Europäern entfielen ihm zufolge 75 Millionen auf Frauen, Kinder, Arme und Alte. Diese schieden als Käufer aus. Vom Rest sollte ein Viertel - also rund sechs Millionen Bildungs- und Besitzbürger - ein Lexikon kaufen, um »eine Art von Schlüssel« zu erwerben, mit dem sie sich »den Eingang in gebildete Zirkel« verschaffen konnten. Daher der Name »Konversationslexikon«.

Neben diesem prosaischen ökonomischen Kalkül gab es ein konzeptionelles Dilemma für die in dem Jahrhundert der Aufklärung entstandenen großen Enzyklopädien oder Universallexika. Sie beanspruchten, das gesamte verfügbare Wissen zu sammeln. Aus diesem enzyklopädischen Geist - das griechische Wort bedeutet wörtlich »Kreis der Wissenschaften« - entstand Johann Heinrich Zedlers 68 Bände starkes »Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste« (1732-1754), wobei das Wort »vollständig« im Titel wörtlich verstanden wurde. Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert publizierten die 35 Bände der »Enyclopédie ou dictionnaire raisonnée des sciences, des arts et des métiers« innerhalb von 29 Jahren - zwischen 1751 und 1780. Das konzeptionelle Dilemma für diese Enzyklopädien entstand, weil sich das Wissen viel schneller vermehrte und veränderte , als es gedruckt werden konnte. Die »Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste« von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber wurde deshalb mit dem 167. Band beim Buchstaben P 1889 abgebrochen.

Es gab zwei Auswege aus diesem Dilemma: Man konnte den umfassenden enzyklopädischen Anspruch aufrechterhalten, aber sich auf einzelne Fach- bzw. Wissensgebiete beschränken. Diesen Weg ging die »Oeconomische Encyclopädie« (1773-1858) und endete in einer Sackgasse: Mit dem 242. Band erreichte sie den Buchstaben L. und wurde 1858 eingestellt - angeblich mit dem Stichwort Leiche.

Den zweiten Ausweg beschritt u.a. der Kaufmann Brockhaus. Er wollte nicht mehr alles Wissen sammeln, sondern nur das für gepflegte Gespräche notwendige Wissen. Die schwierige Frage, was zum Notwendigen gehörte und was nicht, wurde zunächst ebenso willkürlich beantwortet wie moralische, ethische und ästhetische, aber auch medizinische und politische Fragen - bieder-hausväterlich und vorurteilstrunken. Vieles blieb mit Haut und Haaren dem Zeitgeist verhaftet. Friedrich Engels, der gebildete Grandseigneur des Sozialismus, nannte Konversationslexika deshalb »Eselsbrücken des deutschen Bildungsphilisters«.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Lexika sachlicher in ihrer Diktion und wissenschaftlicher. Seit der 17. Auflage von 1966 nannte sich das Lexikon »Brockhaus-Enzyklopädie«. Aktualität, Objektivität, Selektivität und Präzision sind die Grundanforderungen an jedes Lexikon. Die vier Anforderungen sind jedoch nur schwer miteinander vereinbar. Die Aktualität kann die Objektivität gefährden, die Auswahl tangiert Aktualität und Objektivität, die Präzision ist mit Objektivitäts- und Auswahlproblemen verknüpft. Lexikographie war und ist inhaltlich ein Jonglierakt mit diesen vier Kugeln. Wikipedia weicht dem aus und präsentiert einen unübersichtlichen Wissenshaufen.

Wissen vermehrt und verändert sich auch heute immer schneller. Das Online-Lexikon Wikipedia ist viel schneller und umfangreicher als Brockhaus. Aber Wikipedia organisiert nicht Wissen, sondern zerstückelt es in ein ebenso wirres wie verwirrendes Labyrinth von Wissenspartikeln und Verweisen, während die 40-60 Lexikographen bei Brockhaus das unübersichtlich-chaotische Expertenwissen von Tausenden von Spezialisten zu konsistenten Einheiten verdichten. Sich mit Wikipedia zu bilden, gleicht dem hoffnungslosen Unterfangen, mit einem mehrbändigen Wörterbuch eine Sprache zu lernen. Wenn der gedruckte Brockhaus verschwindet, drohen nicht Weltuntergang oder barbarische Ignoranz - ein kultureller Verlust aber allemal.

Der Autor ist Historiker und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main.

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