Weil ich im Osten aufgewachsen bin

Weniger Leidenschaft, bitte! Warum mir der kollektive Ossischutz nach Steinbrücks Merkel-Äußerung unangenehm ist

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Peer Steinbrück hat etwas gesagt. Über Angela Merkel, ihre Leidenschaft für Europa und was das mit der ostdeutschen Herkunft der Kanzlerin zu tun haben könnte. Die Reaktionen darauf lassen den Eindruck entstehen, der SPD-Spitzenkandidat habe dabei die letzte Linie des politisch Erträglichen überschritten. Feuer frei auf Steinbrück. Von allen Seiten wird Merkel nun in Schutz genommen - nicht so sehr als CDU-Regierungschefin, sondern eher als ideeller Gesamt-Ossi. Den hat natürlich mal wieder niemand gefragt. Stattdessen große Aufregung, die meilenweit gegen den Wind den Geruch des Wahlkampfs verströmt.

Lothar Bisky hat die Äußerung des Sozialdemokraten als »einfach blödsinnig« abgewatscht und erklärt, »der kennt nichts von Ostdeutschland«. Einer, der auch nichts von Ostdeutschland kennt, aber dafür in der Regierung zuständig ist, hat sich dem Zug der Empörten pflichtschuldig angeschlossen: Der CDU-Politiker Christoph Bergner kritisierte Steinbrück für die angebliche »Brüskierung der ehemaligen DDR-Bürger«. Sein Parteifreund Volker Kauder empörte sich, den Sozialdemokraten fiele »scheinbar nichts mehr anderes ein als die Diffamierung ihrer Kontrahenten«. Der Linken-Abgeordnete Axel Troost verlangte, die SPD müsse »diese Entgleisung vom Tisch nehmen«. Bernd Riexinger hatte schon zuvor von einer »bodenlosen Unverschämtheit« gesprochen, ach was: von der »schlimmsten Entgleisung gegen Ostdeutsche seit Jahren«. Und seine Ko-Vorsitzende bei der Linkspartei, Katja Kipping, sieht eine »bodenlose Geschichtsfälschung« und verlangt eine Entschuldigung.

Wofür eigentlich? Dafür, dass Steinbrück, wie es in der Politik üblich ist, einen kleinen Abstecher auf das dünne Eis der psychologisierenden Charakterstudien von politischen Gegnern unternommen hat? Dafür, dass der SPD-Spitzenkandidat im Wahlkampf versucht, zwischen Biografie und Politik seiner Konkurrentin einen eher wackeligen Zusammenhang herzustellen? Hat er irgendwen beleidigt, etwa gefordert, die Ostdeutschen seien genetische Antieuropäer und müssten deshalb auf den Mond geschossen werden?

Oder ist an dem Satz, dass Merkel »jedenfalls bis 1989/ 90 eine ganz andere persönliche und politische Sozialisation erlebt hat als die, die diese europäische Integration seit Anfang der 50er Jahre erlebt haben, beginnend mit den Montanverträgen, das spielt in meinen Augen schon eine Rolle«, womöglich genau gar nichts empörend? Könnte es nicht sogar tatsächlich so sein, dass politische und persönliche Erfahrungen auch nach 23 Jahren die Bilder prägen, die man sich von der Wirklichkeit macht? Warum weisen nahezu alle sozialwissenschaftlichen Studien immer noch meist einen Ost-West-Unterschied aus? Und ist, um beim heiligen Gral »Europa« zu bleiben, eine gewisse Nüchternheit nicht sogar verständlich vor dem Hintergrund der Krisen? Und verbirgt sich hinter dem Appell zu mehr Leidenschaft für das europäische Projekt nicht sogar ziemlich oft auch die falsche Zurückweisung jeglicher Kritik, Distanz, Skepsis daran?

Steinbrück wollte Angela Merkels Europapolitik geißeln. Damit hat der Sozialdemokrat einerseits Recht, der von der Kanzlerin mitgeprägte Krisenkurs ist eine Riesensauerei mit gravierenden Folgen für die Menschen in Europa. Andererseits wird auch der Hinweis auf Merkels Biografie nicht überdecken, dass es die SPD war, welche die entscheidenden Weichenstellungen dieser Politik mitgetragen hat, die durch sie im Wahlkampf jetzt demonstrativ zurückgewiesen wird. Das kann und soll man kritisieren. Aber muss man den Ostdeutschen dafür in Stellung bringen?

Der Chor der über Steinbrück Empörten singt in Wahrheit das gleiche Lied wie Steinbrück - nur eben in Moll. Als ob die Ostdeutschen aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen eher zu Leidenschaft mit Europa neigen! Die Ostdeutschen? Mit dem Kontinent? Mit der politischen Union? Mit einer historischen Idee? Oder mit ihrer gegenwärtigen Realität?

Das kapitalistische Krisenprojekt von Merkel, Barroso und EZB lässt bei mir jedenfalls zurzeit keine große Leidenschaft aufkommen. Es wäre absurd, zu bestreiten, dass dies, also meine aktuelle politische Einschätzung, ganz und gar nichts mit der in meiner Biografie geronnenen Erfahrungen und Prägungen zu tun haben soll. Sie ist ein Ergebnis davon: Weil ich im Osten aufgewachsen bin. Und genau deshalb, auch das ist biografiegeprägt, sind mir kollektive Umarmungsversuche, bei denen es offenkundig um etwas anderes - in diesem Fall: Ossischutz wegen Wahlkampf - geht, eher unangenehm.

Apropos Leidenschaft und Politik: »Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau.« Das hat Gustav Heinemann einmal gesagt, es passt auch auf Staatenbünde, politische Unionen und dergleichen. Ein kluger Mann, dieser Heinemann. Obwohl er nicht einmal ein Ostdeutscher war.

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