Such und hilf!
1. Rettungshundestaffel Berlin: Menschen und Hunde sind eine Gemeinschaft
Gegen 17 Uhr ist es bereits stockdunkel. Nur ein paar Scheinwerfer erhellen das Areal, in ihren Lichtkegeln wabert Nebel. Gespenstisch schliert er durch enge Gassen, welche von sperrigen Trümmern gesäumt sind. Keine Filmkulisse, sondern das Übungsgelände der 1. Rettungshundestaffel Berlin beim Arbeiter-Samariter-Bund. Jeden Mittwochabend trainiert sie hier, in Berlin-Lichterfelde, bis 20 Uhr, samstags noch einmal von 14 bis 20 Uhr, sommers wie winters, auch bei Regen. Teilnahme ist Pflicht. Martina erklärt: »Die Hunde und wir müssen immer fit sein. Wenn wir zum Einsatz gerufen werden, ist ja auch nicht nur schönes Wetter.«
Die 1. Rettungshundestaffel Berlin existiert seit 19 Jahren. Ihre Aufgabe: bei der Suche nach vermissten Personen helfen. Die Fachwelt unterscheidet zwischen Flächen- oder Trümmersuche, der Jargon verkürzt auf »Fläche« und »Trümmer«. In die öffentliche Wahrnehmung geriet die Staffel allerdings erst 1992, nach dem Erdbeben in der türkischen Stadt Erczingan, bei dem um die 1000 Menschen umkamen. Je größer die Zahl der Toten, desto größer die Schlagzeilen. Damals bestand die Berliner Staffel ihren ersten großen Auslandseinsatz. 1999, als die Erde in der Türkei erneut bebte, lernte ich Pia und Henry kennen. Sie hatten in den verwüsteten Städten Überlebende aufgespürt. Oder Tote. Pia, knapp 18, absolvierte gerade eine Lehre. Henry war ihr vierbeiniger Freund, ein siebenjähriger Labrador, klug, kraftvoll, schön. Er half Pia, etwas aus sich zu machen, etwas Besonderes. In der Türkei hatten die beiden sich heldenhaft geschlagen, Leben gerettet. Ich freue mich auf ein Wiedersehen, wo sind sie? Von Hannelore erfahre ich, dass Pia nicht mehr kommt, schon seit drei Jahren nicht mehr. Vor drei Jahren starb Henry. Hunde sind nur Gefährten auf Zeit. Mit diesem Wissen lebt hier jeder.

Hannelore mochte Pia. Hannelore Thiede, gelernte Schneiderin, jetzt 64 und Rentnerin, gehört seit 1994 zur Staffel. Wie die anderen trägt sie eine knallrote Trainingskombi, aber ihre muss eine Sonderanfertigung sein, denn Hannelore ist ziemlich klein. Dafür ist ihr Schäferhund, Condor, riesig. Als Condor zehn Monate alt war, hat sie ihn beim Eignungstest der Rettungshundestaffel, von dem sie in der Zeitung gelesen hatte, vorgestellt: Ein großer Hund wie Condor, dachte sie, braucht Bewegung. Condor erwies sich als geeignet: Er war gesund, aktiv, sozial verträglich für Mensch und Hund, und er wollte arbeiten. Hunde, denen man den Wecker ans Ohr halten und zurufen muss: »Aufstehen Kollege!«, kann die Staffel nicht gebrauchen - sie sind untauglich. Mit dem Training beginnen kann bereits ein Welpe, er ist noch völlig unverbildet, aber älter als drei Jahre sollte ein Anfänger nicht sein. Etwa zwei Jahre dauert die Ausbildung, und auch der zweibeinige Partner muss in dieser Zeit eine Menge lernen: retten und bergen aus Trümmern, Karte und Kompass lesen, funken, Erste Hilfe leisten - bei Mensch und Hund. Heute gehört Hannelore zu den erfahrensten Hundführerinnen der Staffel. Wie Pia war sie in der Türkei im Einsatz, auch nach den Erdbeben 1999 in Griechenland und 2003 in Iran. Dort, in der Stadt Bam, haben sie die Suche nach zwei Tagen eingestellt. »Niemand hat etwas gefunden«, sagt Hannelore. »Es gab ja nur Lehmhütten, und die waren alle derart kaputt, da konnte gar keiner überleben.« Die kleine Hannelore lud sich den 30 Kilogramm schweren Condor auf die Schultern und trug ihn über die Glassplitter.
Die großen Katastropheneinsätze, niemand sehnt sie herbei. Aber Angst vor solchen Einsätzen hat Hannelore nicht mehr: »Ich bin bereit«, sagt sie, »ich gehe, um zu helfen, und was mich erwartet, weiß ich. Das ganze Elend, die vielen Toten, ich habe alles schon gesehen.« In Bam starben 31 000 Menschen. Detlef Kühn weiß, dass Hannelore und die anderen »nur so tun, als würden sie alles ganz cool wegstecken«. Er weiß auch, dass dem nicht so ist. Nachdem seine Stellvertreterin Doris Naggatz ihr Bad renovieren ließ, erinnerte sie der Geruch an die Toten - sie konnte nicht mehr schlafen, hatte Albträume. Da war für Kühn klar, dass sie Behandlung brauchte. »Wissen Sie«, erzählt er, »als Junge hat man mir beigebracht, es wird nicht geweint. In Iran habe ich das Weinen wieder gelernt. Und dafür schäme ich mich nicht.«
Kühn, von Beruf Filmtiertrainer, hat die Staffel dereinst gegründet und ist auch der Einsatzführer. Er hat geholfen, weltweit Rettungshundestaffeln aufzubauen - 45 auf 5 Kontinenten. Einmal aufzuhören, kann er sich nicht vorstellen. Leider ist sein Labrador Unicus, der übrigens auch in der Fernsehserie »Unser Charly« mitspielt, »schon zehn«. In Kühns Stimme schwingt Traurigkeit mit.
Auch Martina Zgielowski gilt als eine der erfahrensten Hundeführerinnen im Team. Zum Glück blieben der 50-jährigen Versicherungskauffrau und ihrem Bordercollie Toulouse Auslandseinsätze bisher erspart. Zwar sollten auch sie nach Iran, nur: Sie gelangten nicht dorthin. Genauer: Sie schafften es nicht einmal bis Wien. Wien war Treffpunkt für die europäischen Helfer, von dort aus flog eine große Militärmaschine zum Einsatzort. Die erste Gruppe der Berliner Rettungsstaffel war von der Lufthansa bereits nach Wien gebracht worden. Natürlich auch die Hunde im Passagierbereich, wie es sich gehört. Denn Rettungshunde sind keine Frachtstücke, sondern ebenfalls Passagiere, im Katastrophenfall sogar sehr wichtige. Martina, Mitglied der zweiten Gruppe, sollte mit Air Berlin nach Wien fliegen, aber die Fluggesellschaft war nur bereit, die Hunde im Frachtraum zu transportieren - das war indiskutabel. Sie blieben zu Hause.
Das Verhältnis zwischen Hundeführer und Hund ist eng, muss eng sein. Sie müssen einander gut kennen. Und vertrauen. Martina und Toulouse vertrauen einander blindlings. »Wenn der Hund die Trümmer abgesucht hat und Martina sagt, die ist frei, gehen gleich die Bagger drüber«, erzählt Carsten. Er findet das unglaublich: »Ist das nicht ein dicker Hund?« Carsten Hübner und seine Berner Sennenhündin Hermine sind erst seit zwei Monaten in der Staffel. Bis zur ersten Prüfung haben sie also noch Zeit. Der 36-jährige freie Journalist bewundert Martina ein bisschen: Sie und Toulouse haben gerade wieder alle nationalen Prüfungen - also »Fläche«, »Trümmer«, »Fährte«, »Lawine« - und auch die internationalen Prüfungen erfolgreich bestanden. Und sie nahmen schon mehrfach an Weltmeisterschaften teil. Auf einem Siegertreppchen standen sie noch nicht, aber dass sie dort irgendwann einmal stehen werden, schließt Carsten nicht aus.
Martina und Toulouse haben sich bei vielen nationalen Einsätzen verdient gemacht. Mal verlaufen solche Einsätze dramatisch, mal weniger. Immer muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden, manchmal tritt das Schlimmste ein, zum Beispiel bei Gasexplosionen. Manchmal ist die vermisste Rentnerin, nach der sie vergeblich den Wald absuchen, aber auch schon wohlbehalten wieder zu Hause. Dann sind alle zufrieden.
Carsten trainiert jetzt mit Hermine Unterordnung, Elena mit ihrem Eurasier Blues an den Geräten. Unter anderem gibt es so etwas wie eine Wippe und ein langes bewegliches Brett, das, wenn es belastet wird, leicht über das Gestell schlittert. Blues muss lernen, hinaufzuspringen, denn dieses Brett könnte der Zugang zu einem Versteck sein. Doch sobald sich das Brett bewegt, soll er sofort stehen bleiben. Er soll lernen: Gefahr lauert. So richtig hat er es noch nicht kapiert: Jedes Mal, wenn er auf das Brett springt, springt er sofort wieder herunter. Elena ist zuversichtlich: »Jeder untrainierte Hund würde auf wackligem Untergrund doch sofort völlig ausflippen!«
Rainer und Fragile üben, Verschüttete in Trümmern zu suchen. Wenn Rainer ruft: »Such und hilf!«, spurtet Fragile los. Zu Ve-rena, die sich versteckt hat. Wenn Fragile Verena gefunden hat, soll er laut und ausdauernd bellen. Erst dann bekommt er von Ve-
rena sein »Spielzeug«, einen alten Handschuh. In Wirklichkeit suchen Rettungshunde nämlich nicht nach Verschütteten, sondern nach dem Spielzeug, mit dem sie belohnt werden. Im Einsatz, wo sie kein Spielzeug finden, bekommen sie es von ihrem Partner. Wie gesagt, nachdem sie gebellt haben. Aber Fragile bellt nicht. Das ist das Problem.
»Bei der Prüfung hat er gebellt«, stellt Rainer klar. Rainer Stark, Koch in einer Kita, lässt nichts auf Fragile kommen. Er hat ihn übernommen, als der Labrador ein Jahr alt war - er war schon der vierte »Besitzer«. Rainer glaubt, dass Fragile früher, wenn er bellte, geschlagen wurde. »Einen Hund, der Probleme hat, kann die Staffel verkraften«, sagt Staffelführer Kühn, »viel mehr kaum.« Kühn erzählt, dass Fragile die »Trümmer« bestanden hat, aber in der »Fläche« durchgefallen ist. Prüfungen müssen alle anderthalb Jahre wiederholt werden, wer drei Mal hintereinander durchfällt, ist draußen. Zur Staffel gehören 32 Hunde, 22 davon erfolgreich geprüfte.
Wann bellt Fragile, wann bellt er nicht? Um das herauszufinden, kriecht Martina jetzt in eine Röhre, die sie hinter sich verschließt. Drinnen ist es matschig, aber was sein muss, muss sein - hat ein Hund Probleme, helfen alle. Rainer nervt das manchmal: »Zehn Leute sagen dir, was du machen sollst, jeder etwas anderes, und du sollst dann das Richtige tun.« »Aber wenn wir im Einsatz sind, halten wir zusammen«, versichert Hannelore. »Da sagt keiner: Mit dir arbeite ich nicht, wir haben uns letzte Woche gestritten.« Fragile hat Martina gefunden und bellt. Das verschlossene Versteck ist es also nicht, was ihn irritiert.
Hoppla, was ist denn das für ein Winzling? Der Winzling ist ein Parson Russell Terrier, neun Jahre alt, heißt Idemo und gehört Renate Eberts. Idemo liefert den Beweis dafür, dass es im Leben nicht auf die Körpergröße ankommt - in der Staffel ist er ein Star. Renate, die technischen Umweltschutz studiert, war mit ihm bei den Einsätzen in der Türkei, in Griechenland und auch in Iran. Es gibt fast keine Hunderasse, erfahre ich, die nicht geeignet wäre, Menschen zu retten. Denn fast alle wurden als Arbeitstiere gezüchtet - zur Jagd, zum Hüten, die Labradore sogar, um Netze aus dem Wasser zu ziehen. Ausgenommen die Chow-Chows - die züchtete man, weil sie so gut schmecken. Igitt.
Nadine Lammel und Hera suchen in den Trümmern. Die 27-jährige Krankenschwester ist gerade im Erziehungsjahr, aber eine Trainingspause kommt für sie nicht in Frage. Hera braucht Bewegung, sie selbst auch. Und sie möchte mit ihrem Hund etwas Sinnvolles tun. Hat sie bereits: Nach dem großen Sturm 2003, bei dem in einem Kinderzeltlager in Schwanenwerda zwei Kinder ums Leben kamen, halfen sie und Hera, die anderen Kinder, die in den Wald gelaufen waren, wiederzufinden. Nadine zeigt Bilder, auf denen Hera mit ihrem zweijährigen Sohn Jeaneau schmust. Hera sei ganz sanft, sagt Nadine immer wieder. Als glaube sie, uns davon überzeugen zu müssen. Denn Hera ist ein Mischling aus Dalmatiner und französischer Bracke - zum Teil also ein so genannter Kampfhund. Diesmal ist es Nadine, die ein Problem hat: Sie glaubt, dass niemand Hera mag. »Das stimmt aber nicht«, beteuert Martina.
An den Samstagen vor Weihnachten blieb das Übungsgelände übrigens verwaist: Hundeführer und Hunde sammelten in Berlins Fußgängerzonen Spenden. Jeweils neun Stunden lang. Alle Hunde harrten geduldig aus, keiner sprang plötzlich auf, um einem vorbeispazierenden Hund hinterherzupreschen, sie saßen bei »ihren« Menschen, ließen sich von Passanten die Ohren oder das Fell kraulen, mit einer Engelsgeduld. Die Berliner zeigten großes Interesse und griffen auch mal etwas tiefer ins Portemonnaie. Seit die öffentlichen Kassen leer sind, wird auch am Etat der Rettungshundestaffel geknapst. Die Helden müssen betteln gehen. Zum Glück können sie auch das, und zwar hinreißend.
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