Keiner lebt für sich allein
Der deutsche Jahrhundertschauspieler Erwin Geschonneck feiert heute seinen neunundneunzigsten Geburtstag
Am Anfang stand, für Kinder jedenfalls, fast so etwas wie ein Albtraum: das bartumrandete Gesicht des Holländer-Michel, mit Narbe quer über der Stirn und grässlich starrem, weißem Auge. Daheim hatte er blutende, pochende Herzen an der Wand hängen - wie andere Menschen Kuckucksuhren. Kein Mensch. Ein schauriger Kerl. Groß. Übermächtig. Ein Kinderschreck. Das Monster aus dem DEFA-Klassiker »Das kalte Herz«. Aus ihm wurde der vielleicht beliebteste DDR-Schauspieler. Ein Weltstar, wenn die DDR weltoffen gewesen wäre.
Ein Wort erklärt vieles: Glaubwürdigkeit. Dieser Mann, und jetzt schaltet man gern von der Kunst ins Leben - er musste nicht viel sprechen, aber man glaubte ihm aufs Wort. Trotz allen geschichtlichen Scheiterns von Kommunismus und Sozialismus kann man über ihn noch immer ungebrochen sagen: Seine Kunst widerspiegelte den Weg der Klasse - als Quelle für die Kraft eines Einzelnen. Die Last der Niederlagen, die List der Kämpfe, die Lust auf neue Siege: dies alles in einem einzigen Gesicht. Höllengast in den Schrecknissen der Zeit - und ganz Charmeur wider alles Zeitgeistige.
Geschonnecks Leben: Man hat wenig sehen dürfen von der Erfüllung eigener Träume, aber man hat viel mit ansehen müssen - beträchtliches Material dies, fürs lebenslange Rollenspiel; nein, nicht einfach nur Spiel war das - der überlegte KZ-Häftling Krämer in »Nackt unter Wölfen», der listige Spanien-Kommissar Witting in »Fünf Patronenhülsen.« Später dann der tapfere kleine Bürger Quangel in Falladas »Jeder stirbt für sich allein« (mit Elsa Grube-Deister als Ehefrau).
Es gibt ein grandioses menschliches Bestreben, das seinem Wesen nach ein schauspielerisches ist: jener Wille, die Welt zusammenzufassen, das Spannungsvolle ihrer gegensätzlichen Bewegungen in einem einzigen Moment festzuhalten. Es ist der Wunsch, von dieser verkämpften Welt Nachricht so zu geben, dass man sich danach richten kann. Geschonneck war ein Erleichterer in solchem Zurechtfinden. Er wurde Kommunist, als es am schwersten war, in den Kämpfen nämlich; er ist es geblieben, als es wieder sehr schwer wurde, weil so viele denken, die Kämpfe seien vorbei. Er wird als Kommunist sterben. Ein Arbeiter, durch und durch. Statt Schauspielschule: die Universitäten eines Lebens in den unteren Gefilden der Gesellschaft.
Jahrhundert-Schauspieler? Am Ende ist das eine Frage des Alters, vorher aber ist es eine Frage der Erfahrungen. In der Kindheit der Berliner Ackerstraße, dem Berlin-Alexanderplatz-Milieu Döblins. Im Exil in der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei. In den KZs Dachau und Neuengamme. Schließlich auf dem Schnelldampfer »Cap Arcona», den die Briten am 3. Mai 1945 bombardierten, obwohl sie wussten, dass Tausende NS-Opfer an Bord waren - Erwin Geschonneck gehörte zu den 350 Menschen von 4600, die gerettet wurden.
Lange schwieg er darüber, dass es die sowjetischen Genossen waren, die 1937 auch den Deutschen Geschonneck über die Grenzen ins Faschisten-Gebiet zurückgeschickt hatten, ohne Begründung, gewissermaßen direkt ins KZ. Das war sie, die Praxis der Klassenkampf-theorie: Vorsicht vor deinesgleichen, es könnte die raffinierteste Maske des Feindes sein.
Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre scheiterte der Fortsetzungsdruck von Geschonnecks Autobiographie in der FDJ-Zeitung »Junge Welt« daran, dass der Autor es ablehnte, jene Stellen zu streichen, die der jungen Generation hätten erzählen können, was das damals war: Stalinismus. Auch auf diese Weise blieb er Gegenwart, der Stalinismus.
Geschonnecks beschriebene politische Grundhaltung: Seltsam - sie vermittelte sich auch über Gesichter auf der anderen Seite der Barrikade. Ob der derb-biedere Amateurhenker in »Das Beil von Wandsbek« oder der Großbauer in »Schlösser und Katen«: das trotzige Behagen, die knorrige Beharrlichkeit und der oft sarkastische, aber leise drohende Witz seiner Ausbeutergestalten sind ebenfalls Ausdruck jener proletarischen Erfahrung, die Geschonneck gleichsam zum »Archiv« seiner Gestaltungsimpulse entwickelte. Ja, dieses Gesicht konnte äußerst brutal aussehen, zu bornierter Dumpfheit verhärten. Dieser Schauspieler blieb stets ein Akteur der Klarheit, der sofortigen Konturen, einer, bei dem man sehr schnell wusste, woran man ist. So oder so. Noch die Dekadenz: bei ihm von unverbrauchter Kraft. Wie sonst wäre sie als zerstörerisch begreifbar.
Ein Hans Albers der proletarischen Neuzeit: Hoppla, jetzt komm - ich! Jawoll, meine Herren, das haben wir gern! Und die Damen nicht minder! Scheiße, sagt zum Beispiel Kalle, und damit ist vieles gesagt. Sein erstes Wort in »Karbid und Sauerampfer«. Darin steckt das Lapidare derer, die sich dem stellen, was kommt, und dem, worauf es ankommt. Und die wissen, dass urdeutsches Fluchen besser als Beten ist. Beten gehört der Todesangst, Fluchen der Lebenslust.
Die gesamte Nachkriegsodyssee von diesem Kalle im Tausch-Glück, sie spielt sich - in einer der besten DEFA-Komödien - im Gesicht Geschonnecks ab. Unschuld, die ihre Verwandtschaft zur Einfalt nicht leugnet. Güte, die menschlicher Reife entspringt. Verkniffenheit auch, die den schweißtreibenden Prozess des Denkens dokumentiert. Till Eulenspiegel nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufbruch Ost mitten in den Zusammenbrüchen. Da kommt einer durch die Welt, und er weiß genau, warum: weil er Junggeselle und Vegetarier ist.
Nein, Kalle kommt nicht einfach durch, er wittert sich durch. Die nun führende Klasse beginnt als verschlagen sich vortastende Kreatur. Wer soeben das gegenseitige Bekriegen überlebt hat, der lässt sich doch jetzt nicht unterkriegen.
Die pfiffige Doppelbödigkeit Geschonneck'scher Gestalten, die Erdwärme ihres Witzes, die quengelige Vertracktheit und plebejische Sturheit (vieles erinnerte an die Sinnesart eines O'Casey) signalisierten die Übertretung eines Platzverbotes; Geschonneck war nämlich gern am witzigsten dort, wo Witz nicht gern gesehen war. In den schwierigen Zeiten. Im Leid. In der Politik. Dieser Witz hatte die Brille auf der Nase und einen schütteren Schnauzer über schmalen Lippen. Liebevoll polternde Kauzigkeit - in der Lodenjacke lebenslanger Arbeit. Oder auch: überdrehte Geschäftigkeit, bohrende Neugier, etwa beim Friseur Kowalski in »Jakob der Lügner«: Kraftspender im Getto von Warschau, dem am Ende Kraft für sich selber fehlt. Kraft fürs Verkraften der bitteren Wahrheit: dass es Rettung nicht gibt. Der Clown, dem in der Einsamkeit seiner betrogenen Hoffnungen jener Witz fehlt, der ihn selber am Leben hielte.
Die Komik Geschonnecks konnte sich, um bemerkbar zu bleiben, souveräne Zurückgezogenheit leisten. Weil sie wahrhaftig war. Und sie wurde regelrecht schön, wenn dieses Gesicht zu staunen begann. Ein Schürzen des Mundes war oft der Anfang. Alle seine Gestalten staunten irgendwann, machten die Verdutztheit zum geradezu epochalen mimischen Vorgang. Da klaute einer der Welt das Erhabene, um sich Welt anzueignen. Je älter, desto staunender, das war Geschonneck. Der wundervolle Opa: Komik als Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit. Die Zucht geregelten, abgelaufenen Daseins. Die Zügellosigkeit aber der weiter wachen Sehnsüchte, des Kindes im Manne. Man betrachte sich die Großväter-Rollen in Kinderfilmen; dies Wunder von Wirkung beherrschten nur zwei so herzergreifend, kindwitzig: Kurt Böwe und - Geschonneck. Knurrend versteckte Freundlichkeit, gespielte Abgeklärtheit - aber heimlich träumt man noch immer vom Erotik-Abenteuer Asta Nielsen.
Einen schönen Beweis, wie nah beieinander, in höchster Lebendigkeit, Kind und Greis sein können, das zeigte Geschonneck in Roland Gräfs »Bankett für Achilles«. Absage an alle Rentner mit dreißig. Wie dieser Alte die Gleichaltrigen auf einer Parkbank beobachtet, sich - wieder in dieser Mischung aus Trotzschnute und staunendem Erschrecken - dem eigenen Verwittern gegenübersieht, das hat Sinn und gleichsam fünf Sinne. Krückstock und aufrechter Gang: Es geht wunderbar.
Er war beliebt, spielte viel. Und doch wurde der Wunsch, Geschonneck zu sehen, nie durch die Überfülle eines Angebots gesättigt, gar beschädigt. Immer blieb, von Film zu Film, eine Erwartung offen, obwohl man sich seiner doch längst sicher war. Sicher schien. Er verschliss sich nicht in den Lockungen der Popularität. Er wurde Volksschauspieler durch Menschennähe, aber dies ohne Anbiederung. Brechts These, dass die Kunst dem Publikum vorangehen müsse, und zwar mit großen Schritten - sie bleibt richtig. Aber wie groß müssen diese Schritte unbedingt sein, damit man wirklich eine Bewegung spürt? Und wie groß dürfen sie nur sein, damit die Abstände nicht zu weit werden? Die Gunst, in der Geschonnecks Kunst bei den Zuschauern stand, gab praktikable Antworten.
Eigentlich sollte er, nach dem Krieg, bei Wolfgang Langhoff im Deutschen Theater spielen, den Mephisto zuerst. Die Weigel holte ihn zum Schiffbauerdamm. Er spielte bei Brecht am Berliner Ensemble, in der »Courage», im »Don Juan«, in den »Gewehren der Frau Carrar», er war der Knecht Matti des Puntila. Gab seinem Sohn, dem heutigen Fernsehregisseur, diesen Namen. Sieben starke Jahre am BE. Verfremdung? Kühle? »Saftig und prall«, hieß es schon 1949 in einer Kritik über ihn. Saftig und prall. So blieb er. Fühlte sich irgendwann eingeengt, von Brecht, von den Wiederholungen des Repertoiretheaters. Konnte nicht vertragen, wenn Brecht gestandene Schauspieler herunterputzte. Viele trugen seit jener Zeit die Brecht-Zigarre, ein Abzeichen. Er rauchte die Geschonneck-Zigarre. Kein Abzeichen. Reiner Genuss. Ein Charakter gab Rauchzeichen.
Übrigens: Bundesdeutschlands Standard-Theaterlexikon, herausgegeben von C. Bernd Sucher, einem renommierten Münchner Kritiker, erwähnt Geschonneck nicht. Es gibt eine Ignoranz, die kommt aus hochgebildeter Dummheit.
Der Jahrhundertschauspieler. Autor Günther Rücker nannte den Henker in »Das Beil von Wandsbek« und den Greifswald-Befreier Ebershagen in »Gewissen in Aufruhr« zwei Rollen, »in denen Geschonneck den Deutschen jenen Spiegel vorhielt, von dem bei Shakespeare bereits vieles zu lesen ist«. Er spielte, und Gesicht und Körper bewegten sich wie Furchen unter einem Pflug. Neuland unterm Pflug. Ein Bleibender.
ND-Service
Der ND-Videoservice bietet eine Auswahl von DEFA-Filmen mit Erwin Geschonneck - zum Sonderpreis von 12 Euro zzgl. Versandgebühren: »Das kalte Herz« (DVD oder VHS zum Sonderpreis von 5 Euro), »Karbid und Sauerampfer« (DVD), »Die Unbesiegbaren« (DVD), »Nackt unter Wölfen« (DVD), »Jakob der Lügner« (DVD). Das Angebot gilt für alle Bestellungen, die bis 6. Januar 2006 bei uns eintreffen.
Tel.: (030) 2978-1654, Fax.: -1650, die E-Ma...
Ein Wort erklärt vieles: Glaubwürdigkeit. Dieser Mann, und jetzt schaltet man gern von der Kunst ins Leben - er musste nicht viel sprechen, aber man glaubte ihm aufs Wort. Trotz allen geschichtlichen Scheiterns von Kommunismus und Sozialismus kann man über ihn noch immer ungebrochen sagen: Seine Kunst widerspiegelte den Weg der Klasse - als Quelle für die Kraft eines Einzelnen. Die Last der Niederlagen, die List der Kämpfe, die Lust auf neue Siege: dies alles in einem einzigen Gesicht. Höllengast in den Schrecknissen der Zeit - und ganz Charmeur wider alles Zeitgeistige.
Geschonnecks Leben: Man hat wenig sehen dürfen von der Erfüllung eigener Träume, aber man hat viel mit ansehen müssen - beträchtliches Material dies, fürs lebenslange Rollenspiel; nein, nicht einfach nur Spiel war das - der überlegte KZ-Häftling Krämer in »Nackt unter Wölfen», der listige Spanien-Kommissar Witting in »Fünf Patronenhülsen.« Später dann der tapfere kleine Bürger Quangel in Falladas »Jeder stirbt für sich allein« (mit Elsa Grube-Deister als Ehefrau).
Es gibt ein grandioses menschliches Bestreben, das seinem Wesen nach ein schauspielerisches ist: jener Wille, die Welt zusammenzufassen, das Spannungsvolle ihrer gegensätzlichen Bewegungen in einem einzigen Moment festzuhalten. Es ist der Wunsch, von dieser verkämpften Welt Nachricht so zu geben, dass man sich danach richten kann. Geschonneck war ein Erleichterer in solchem Zurechtfinden. Er wurde Kommunist, als es am schwersten war, in den Kämpfen nämlich; er ist es geblieben, als es wieder sehr schwer wurde, weil so viele denken, die Kämpfe seien vorbei. Er wird als Kommunist sterben. Ein Arbeiter, durch und durch. Statt Schauspielschule: die Universitäten eines Lebens in den unteren Gefilden der Gesellschaft.
Jahrhundert-Schauspieler? Am Ende ist das eine Frage des Alters, vorher aber ist es eine Frage der Erfahrungen. In der Kindheit der Berliner Ackerstraße, dem Berlin-Alexanderplatz-Milieu Döblins. Im Exil in der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei. In den KZs Dachau und Neuengamme. Schließlich auf dem Schnelldampfer »Cap Arcona», den die Briten am 3. Mai 1945 bombardierten, obwohl sie wussten, dass Tausende NS-Opfer an Bord waren - Erwin Geschonneck gehörte zu den 350 Menschen von 4600, die gerettet wurden.
Lange schwieg er darüber, dass es die sowjetischen Genossen waren, die 1937 auch den Deutschen Geschonneck über die Grenzen ins Faschisten-Gebiet zurückgeschickt hatten, ohne Begründung, gewissermaßen direkt ins KZ. Das war sie, die Praxis der Klassenkampf-theorie: Vorsicht vor deinesgleichen, es könnte die raffinierteste Maske des Feindes sein.
Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre scheiterte der Fortsetzungsdruck von Geschonnecks Autobiographie in der FDJ-Zeitung »Junge Welt« daran, dass der Autor es ablehnte, jene Stellen zu streichen, die der jungen Generation hätten erzählen können, was das damals war: Stalinismus. Auch auf diese Weise blieb er Gegenwart, der Stalinismus.
Geschonnecks beschriebene politische Grundhaltung: Seltsam - sie vermittelte sich auch über Gesichter auf der anderen Seite der Barrikade. Ob der derb-biedere Amateurhenker in »Das Beil von Wandsbek« oder der Großbauer in »Schlösser und Katen«: das trotzige Behagen, die knorrige Beharrlichkeit und der oft sarkastische, aber leise drohende Witz seiner Ausbeutergestalten sind ebenfalls Ausdruck jener proletarischen Erfahrung, die Geschonneck gleichsam zum »Archiv« seiner Gestaltungsimpulse entwickelte. Ja, dieses Gesicht konnte äußerst brutal aussehen, zu bornierter Dumpfheit verhärten. Dieser Schauspieler blieb stets ein Akteur der Klarheit, der sofortigen Konturen, einer, bei dem man sehr schnell wusste, woran man ist. So oder so. Noch die Dekadenz: bei ihm von unverbrauchter Kraft. Wie sonst wäre sie als zerstörerisch begreifbar.
Ein Hans Albers der proletarischen Neuzeit: Hoppla, jetzt komm - ich! Jawoll, meine Herren, das haben wir gern! Und die Damen nicht minder! Scheiße, sagt zum Beispiel Kalle, und damit ist vieles gesagt. Sein erstes Wort in »Karbid und Sauerampfer«. Darin steckt das Lapidare derer, die sich dem stellen, was kommt, und dem, worauf es ankommt. Und die wissen, dass urdeutsches Fluchen besser als Beten ist. Beten gehört der Todesangst, Fluchen der Lebenslust.
Die gesamte Nachkriegsodyssee von diesem Kalle im Tausch-Glück, sie spielt sich - in einer der besten DEFA-Komödien - im Gesicht Geschonnecks ab. Unschuld, die ihre Verwandtschaft zur Einfalt nicht leugnet. Güte, die menschlicher Reife entspringt. Verkniffenheit auch, die den schweißtreibenden Prozess des Denkens dokumentiert. Till Eulenspiegel nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufbruch Ost mitten in den Zusammenbrüchen. Da kommt einer durch die Welt, und er weiß genau, warum: weil er Junggeselle und Vegetarier ist.
Nein, Kalle kommt nicht einfach durch, er wittert sich durch. Die nun führende Klasse beginnt als verschlagen sich vortastende Kreatur. Wer soeben das gegenseitige Bekriegen überlebt hat, der lässt sich doch jetzt nicht unterkriegen.
Die pfiffige Doppelbödigkeit Geschonneck'scher Gestalten, die Erdwärme ihres Witzes, die quengelige Vertracktheit und plebejische Sturheit (vieles erinnerte an die Sinnesart eines O'Casey) signalisierten die Übertretung eines Platzverbotes; Geschonneck war nämlich gern am witzigsten dort, wo Witz nicht gern gesehen war. In den schwierigen Zeiten. Im Leid. In der Politik. Dieser Witz hatte die Brille auf der Nase und einen schütteren Schnauzer über schmalen Lippen. Liebevoll polternde Kauzigkeit - in der Lodenjacke lebenslanger Arbeit. Oder auch: überdrehte Geschäftigkeit, bohrende Neugier, etwa beim Friseur Kowalski in »Jakob der Lügner«: Kraftspender im Getto von Warschau, dem am Ende Kraft für sich selber fehlt. Kraft fürs Verkraften der bitteren Wahrheit: dass es Rettung nicht gibt. Der Clown, dem in der Einsamkeit seiner betrogenen Hoffnungen jener Witz fehlt, der ihn selber am Leben hielte.
Die Komik Geschonnecks konnte sich, um bemerkbar zu bleiben, souveräne Zurückgezogenheit leisten. Weil sie wahrhaftig war. Und sie wurde regelrecht schön, wenn dieses Gesicht zu staunen begann. Ein Schürzen des Mundes war oft der Anfang. Alle seine Gestalten staunten irgendwann, machten die Verdutztheit zum geradezu epochalen mimischen Vorgang. Da klaute einer der Welt das Erhabene, um sich Welt anzueignen. Je älter, desto staunender, das war Geschonneck. Der wundervolle Opa: Komik als Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit. Die Zucht geregelten, abgelaufenen Daseins. Die Zügellosigkeit aber der weiter wachen Sehnsüchte, des Kindes im Manne. Man betrachte sich die Großväter-Rollen in Kinderfilmen; dies Wunder von Wirkung beherrschten nur zwei so herzergreifend, kindwitzig: Kurt Böwe und - Geschonneck. Knurrend versteckte Freundlichkeit, gespielte Abgeklärtheit - aber heimlich träumt man noch immer vom Erotik-Abenteuer Asta Nielsen.
Einen schönen Beweis, wie nah beieinander, in höchster Lebendigkeit, Kind und Greis sein können, das zeigte Geschonneck in Roland Gräfs »Bankett für Achilles«. Absage an alle Rentner mit dreißig. Wie dieser Alte die Gleichaltrigen auf einer Parkbank beobachtet, sich - wieder in dieser Mischung aus Trotzschnute und staunendem Erschrecken - dem eigenen Verwittern gegenübersieht, das hat Sinn und gleichsam fünf Sinne. Krückstock und aufrechter Gang: Es geht wunderbar.
Er war beliebt, spielte viel. Und doch wurde der Wunsch, Geschonneck zu sehen, nie durch die Überfülle eines Angebots gesättigt, gar beschädigt. Immer blieb, von Film zu Film, eine Erwartung offen, obwohl man sich seiner doch längst sicher war. Sicher schien. Er verschliss sich nicht in den Lockungen der Popularität. Er wurde Volksschauspieler durch Menschennähe, aber dies ohne Anbiederung. Brechts These, dass die Kunst dem Publikum vorangehen müsse, und zwar mit großen Schritten - sie bleibt richtig. Aber wie groß müssen diese Schritte unbedingt sein, damit man wirklich eine Bewegung spürt? Und wie groß dürfen sie nur sein, damit die Abstände nicht zu weit werden? Die Gunst, in der Geschonnecks Kunst bei den Zuschauern stand, gab praktikable Antworten.
Eigentlich sollte er, nach dem Krieg, bei Wolfgang Langhoff im Deutschen Theater spielen, den Mephisto zuerst. Die Weigel holte ihn zum Schiffbauerdamm. Er spielte bei Brecht am Berliner Ensemble, in der »Courage», im »Don Juan«, in den »Gewehren der Frau Carrar», er war der Knecht Matti des Puntila. Gab seinem Sohn, dem heutigen Fernsehregisseur, diesen Namen. Sieben starke Jahre am BE. Verfremdung? Kühle? »Saftig und prall«, hieß es schon 1949 in einer Kritik über ihn. Saftig und prall. So blieb er. Fühlte sich irgendwann eingeengt, von Brecht, von den Wiederholungen des Repertoiretheaters. Konnte nicht vertragen, wenn Brecht gestandene Schauspieler herunterputzte. Viele trugen seit jener Zeit die Brecht-Zigarre, ein Abzeichen. Er rauchte die Geschonneck-Zigarre. Kein Abzeichen. Reiner Genuss. Ein Charakter gab Rauchzeichen.
Übrigens: Bundesdeutschlands Standard-Theaterlexikon, herausgegeben von C. Bernd Sucher, einem renommierten Münchner Kritiker, erwähnt Geschonneck nicht. Es gibt eine Ignoranz, die kommt aus hochgebildeter Dummheit.
Der Jahrhundertschauspieler. Autor Günther Rücker nannte den Henker in »Das Beil von Wandsbek« und den Greifswald-Befreier Ebershagen in »Gewissen in Aufruhr« zwei Rollen, »in denen Geschonneck den Deutschen jenen Spiegel vorhielt, von dem bei Shakespeare bereits vieles zu lesen ist«. Er spielte, und Gesicht und Körper bewegten sich wie Furchen unter einem Pflug. Neuland unterm Pflug. Ein Bleibender.
ND-Service
Der ND-Videoservice bietet eine Auswahl von DEFA-Filmen mit Erwin Geschonneck - zum Sonderpreis von 12 Euro zzgl. Versandgebühren: »Das kalte Herz« (DVD oder VHS zum Sonderpreis von 5 Euro), »Karbid und Sauerampfer« (DVD), »Die Unbesiegbaren« (DVD), »Nackt unter Wölfen« (DVD), »Jakob der Lügner« (DVD). Das Angebot gilt für alle Bestellungen, die bis 6. Januar 2006 bei uns eintreffen.
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