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Gegen den Seelen(mager)quark

»Glanz und Elend der Kurtisanen« von René Pollesch an der Berliner Volksbühne: Es lebe die Lüge!

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Zeigefinger ist ein Torpedo. Oder ein Enterhaken. Er reißt, hackt Löcher in die Atmosphäre, wenn sie besinnlich werden will. Es ist der Zeigefinger aus der Tradition der Hexen, der Giftzwerge. Also gehört er Martin Wuttke. Der tobt, koboldet gegen die Wahrheit, die Authentizität, die Innerlichkeit: Es ist doch aus mit dem Künstler, sobald er zu empfinden beginnt; alle Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt doch ein kaltes Verhältnis zum Menschlichen voraus!

Wuttke trägt eine Zauselperücke, eine Feier auf alle Ungewaschenen und Ungekämmten dieser Welt; er hat ein Hautkostüm, fusslig behaart, ein Wesen nur knapp überm Affenstatus; das dazugehörige Gebiss führt die Assoziationen wahlweise ins Frühstadium der menschlichen Evolution oder in einen Loriotsketch. Natürlich stakt, stiert, stumpft, zappelt, zetert, zürnt Wuttke mal ohne, mal mit Perücke und Gebiss; was ist Sein, was Schein, was ist Maske, was Mensch?

Was hier komisch, kurzweilig, geradezu elegant prunkt, ist die Rolle, das Bekenntnis zum Spiel, ja: zum Äußerlichen, zum Charme der schönen Geste im öffentlichen Raum. Ein Charme, den Wuttkes hippliges, verdutzungseifriges und zugleich palaveraggressives Rumpelstilzchen immer wieder aufs Gröbste und also Komödiantischste unterläuft. Birgit Minichmayr dagegen bleibt noch im Zug an der Zigarette wunderbar tänzerisch und geschwungen - sie nennt es eine »trostlose Leidenschaft«, wenn sich Schauspieler beim Schlussapplaus so verbeugen, dass man ihnen ansieht, wie erfüllt sie noch immer von der eben gespielten Rolle sind.

Die Minichmayr spitzt hier gewitzt gegen Beseeltheit, Ergriffenheit, Identitätsmulm. Auf dieser Bühne zeigt der Zynismus sein innigst liebliches Gesicht: wie langweilig das moderne Versunkenheitsgetue, dieser gottesdienstliche Einfühlungsfleiß heutzutage. Dieser ganze Seelen(mager)quark überall. Als sei das schon Widerstand gegen das Betriebsschnurren der Welt. Als frage der Fußballer dauernd mit Säuseln: Oh, was macht der Ball mit mir?! Ansehnlicher ist doch, der Spieler machte was aus dem Ball, schleunigst und professionell.

»Glanz und Elend der Kurtisanen« von René Pollesch (Bühne: Bert Neumann) an der Volksbühne Berlin nimmt einen Stoff von Balzac zum Anlass, die Lüge zu feiern, die Verlässlichkeit der Verabredung - was gesagt wird, etwa der Satz »ich liebe dich«, muss doch nicht wahr sein und ist trotzdem ein schöner Satz. Pollesch lässt Balzac-Motive anklingen, das stört nicht weiter, denn er jagt in gewohnter Rasanz sofort hinein in seine eigene atemberaubende Kunst des Monologs, eine Kunst, bei der die kompliziertesten Gedanken hochgeschraubt werden, höher und höher; dann der Knall, der alles in einer Pointe zerquetscht, daraufhin Repliken der nächsten Spieler (»ja, genau!«), und weiter geht's - ein fortwährendes Herausplatzen von tolldreister Kopfakrobatik. Und der Zuschauer: in ständiger Hochkonzentrations-Gefangenschaft, man spürt schier, wie die Geistes-Salti und Denk-Pirouetten durch das eine Ohr hereinfegen, es peitscht da was durchs Hirn, und pfffhhh!, rauscht der gesamte Laden durchs andere Ohr wieder hinaus. Grandios klug, gnadenlos ironisch, und - von Stück zu Stück - zunehmend gelöster, beschwingter.

Wuttke, Minichmayr, dazu Christine Groß, Franz Beil und Trystan Pütter: Sie reden, tanzen, turnen, sie turnen, tanzen, reden. Vor einem berauschend farbschönen Lamettavorhang hebt und senkt sich ein gigantischer Ballon, die Spieler steigen ein, schweben.

Eine der verblüffendsten Szenen entsteht, wenn der Vorhang die Bühne in wechselnde Bildausschnitte verwandelt, einer Leinwand gleich, und zu gewaltig orchestraler Musik schwingt einzig und allein der Ballon: große Oper, großes Kino, große Melancholie, große Gefühle. Und alles nur, weil die besagte Musik fälschlicherweise drübergelegt wurde - das echt, tief, schön Anmutende als Folge eines technischen Fehlers. Das ist sie, die Ehrlichkeit des Spiels: bestechend zu lügen.

Entschieden fröhlich kräht Minichmayr, endlich mal den ganzen »Schwulenscheiß« zu vergessen. Könnte auch Krisenscheiß heißen, Parteienscheiß oder Ich-Erkennungsscheiß (wo es Wuttke nicht mal schafft, im Spiegel den eigenen Hintern zu erkennen!). Ein Aufruf zur stabilisierenden Kultur der Fiktion: Leute, tut im öffentlichen Raum nicht so elendig wahr, spielt eure Rolle, bekennt euch herzhaft zur Pose, die nach Gegenpose ruft. Unser aller innerstes Motiv, Thema, Interesse bedienen wir doch mit großem Verheimlichungsaufwand. Jeder. Also ist jeder ein Dichter, weil er nicht sagen darf, was er gern sagen würde. Und jeder weiß das, weiß es auch vom anderen. Also: Keiner glaubt keinem, so spielen wir, und so wird Frieden sein. Kurz vor der Bundestagswahl sehr wegweisend ...

Nächste Vorstellung: 15. 9.

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