Jugendliche auf Spurensuche in Sonnenburg

Deutsch-polnisches Schülerprojekt arbeitet Geschichte der Neumark auf

  • Sybille Gurack
  • Lesedauer: 4 Min.

Polnische und deutsche Schüler zwischen 15 und 17 Jahren starteten in den letzten Tagen zu einem gemeinsamen Arbeitseinsatz in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers und Zuchthauses Sonnenburg - heute Slonsk, Polen. Die jungen Leute beschnitten Bäume und Sträucher, reinigten die Grabsteine und zupften vor allem jede Menge Gras, das definitiv zu dicht gewachsen war über das europäische Leid dieses Ortes.

In dem 1930 u.a. wegen seiner katastrophalen hygienischen Bedingungen geschlossenen Zuchthaus betrieb das preußische Justizministerium von 1933-34 ein Konzentrationslager. Die Lage hinter den Oder-Auen bei Küstrin schien besonders geeignet. Bis zu 1000 Inhaftierte vegetierten in Massenzellen zu je 20, 30 oder gar 60 Häftlingen. 1934 wurde das KZ offiziell geschlossen, das Zuchthaus existierte jedoch weiter. Es wurde mit Beginn des Zweiten Weltkrieges bis 1945 als Konzentrations- und Arbeitslager genutzt. Gestapo-Beamte aus Frankfurt (Oder) und 60 SA-Hilfspolizisten aus dem Berliner Polizeipräsidium peinigten die Insassen. Nach Sonnenburg deportierte die Gestapo vor allem angeblich deutschfeindliche Personen aus dem besetzten Ausland.

Auf dem Grabstein der heutigen Gedenkstätte ist nachzulesen, dass in Sonnenburg Bürger u.a. aus Belgien, Tschechien, Frankreich, Luxemburg, Jugoslawien, Niederlande, Norwegen, Russland und aus Deutschland waren. Darunter Widerstandskämpfer und Pazifisten wie Ottomar Geschke und Carl von Ossietzky. Einen grausamen Tod fanden hier auch Bürger, die in Nacht- und Nebelaktionen einfach aus ihren Wohnungen geholt und nach Sonnenburg verschleppt wurden.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges ereignete sich in Sonnenburg ein großes Massaker an Inhaftierten: In der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 - die Artillerieschüsse der befreienden russischen Armee waren schon in der Ferne zu hören - erschossen Gestapo-Beamte etwa 800 Häftlinge.

Zwei Tage später erreichte die russische 8. Garde-Armee den Ort Sonnenburg. Die Zuchthausleitung war zu dem Zeitpunkt schon geflohen. Die russischen Soldaten fanden vier Überlebende des Massakers und einen Leichenberg. Eine russische Untersuchungskommission sicherte zwischen dem 2. und 10. Februar die Spuren des sogenannten Endphaseverbrechens und konnte einen Teil der Opfer identifizieren. In diesem Zusammenhang entstanden die weltweit verbreiteten Film- und Fotoaufnahmen des Leichenberges von Sonnenburg. Nach 1945 spielte Sonnenburg in verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen eine wichtige Rolle.

Karl-Christoph von Stünzner, Kurator der Stiftung Brandenburg, engagiert sich seit einiger Zeit für das 1341 errichtete Ordensschloß Sonnenburg, dem ehemaligen Sitz der Herrenmeister des Johanniterordens. In diesem Zusammenhang entdeckte er den Friedhof. In Absprache mit Bürgermeister Janusz Krlyskow holte der Kurator etliche Mitstreiter ins Boot: den Volksbund Kriegsgräberfürsorge, das junge Berliner Unternehmen »Projekte im Kulturgutschutz« und das katholische Schulzentrum Bernhardinum Fürstenwalde. Gemeinsam berieten sie, wie die Anlage ihrer mahnenden Rolle gerecht werden könnte. Das »Projekt Sonnenburg« war geboren.

Im Januar, zu den traditionellen »Tagen der politischen Bildung« im Bernhardinum, besuchte eine Gruppe von Schülern erstmals das »Haus Brandenburg« in Fürstenwalde. Nach der theoretischen Vorbereitung gab es am Folgetag eine Exkursion nach Sonnenburg. Mit dabei war der 17-jährige David Seifert. David und andere Schüler begannen sich für die Geschichte der Neumark als Teil der europäischen Geschichte zu interessieren. Schließlich gehörte er der Delegation an, die Mitte September vor Ort beim wissenschaftlichen Kolloquium zu Geschichte und Zukunft der Gedenkstätte dabei sein durfte. Er sah eine Menge vergilbter Fotos und eine Holzfabrik da, wo früher die Erschießungsmauer stand. »Wir waren über den Zustand der Gedenkstätte geschockt«, sagt er. Den Vorschlag einer Architektin, eine Haftzelle nachzustellen, begrüßte der Schüler.

Auch beim Arbeitseinsatz in der letzten Woche beschäftigten sich die deutschen und polnischen Schüler zu Beginn mit der Geschichte von Sonnenburg. Emotionaler noch als alle Bilder war die Begegnung mit Zeitzeugen. Schülerin Linda Kummer war betroffen. Ihre Uroma, die 102 Jahre alt wurde, hatte ihr früher oft von der Zwangsumsiedlung, Krieg und Tod erzählt. Aber da war Linda noch zu jung und verstand wenig. Dagegen war es für die Neuntklässlerin etwas völlig anderes, hier an Ort und Stelle mitzuerleben, wie die Zeit das Leid der Menschen nicht heilen konnte ...

Nach den Einsätzen gab es einen Kunstworkshop und gemütliches Beisammensein. Übernachtet haben die Jugendlichen in der Feuerwache. Der Abschied von Sonnenburg fiel nicht so schwer. »Das Projekt hat ja grad erst begonnen«, sagt Kummer.

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