Neid? Kenn ich nicht!

Vom Nachteil und Nutzen eines der letzten großen Tabus unserer Gesellschaft

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

In Talkshows sprechen Menschen heute freimütig über Dinge, derentwegen sie noch vor wenigen Jahrzehnten sozial geächtet worden wären. Der eine outet sich als Fetischist, ein anderer bekennt, dass er Frauen ebenso liebt wie Männer, und ein dritter berichtet über seine Erfahrungen im Drogenmilieu. Man darf auch gern gestehen, dass man sexsüchtig, ungebildet oder faul ist, ja sogar zur Gewalt neigt. Nur eines sollte jeder tunlichst vermeiden, nämlich zuzugeben, dass er auf irgendetwas oder irgendjemanden neidisch sei.

Denn Neid ist in unserer Gesellschaft eines der letzten tabuisierten Gefühle. Neider gelten als böse und hinterhältig, da sie anderen missgönnen, was sie selbst nicht in ausreichendem Maße besitzen, sei es Geld, Schönheit oder Intelligenz. »Das eigene Dasein erscheint dem Neider ärmlich, wertlos, hässlich. Immerzu nagen Zweifel am Gefühl seines eigenen Werts, unentwegt sinnt er darüber nach, wie er zurückgesetzt wurde«, schreibt der Soziologe Wolfgang Sofsky in seinem »Buch der Laster« (Verlag C.H. Beck, 272 S., 7,95 €). Tatsächlich hat Neid nicht immer mit eigenem Versagen zu tun. In den meisten Fällen speist er sich aus einer subjektiv empfundenen Unzulänglichkeit, die häufig so schmerzt, dass sie die Lebensqualität beeinträchtigt.

Neid gehört zur emotionalen Grundausstattung des Menschen

Worin aber wurzelt dieses Gefühl, das jeder kennt, über das jedoch niemand gern spricht? Schon Immanuel Kant war überzeugt, dass Neid kein erlernter Charakterzug ist, sondern zur emotionalen Grundausstattung des Menschen gehört. Die moderne An- thropologie stützt diese Auffassung. Denn die längste Zeit seiner Geschichte lebte der Mensch in Gruppen, deren Mitglieder eng zusammenarbeiten mussten, um zu überleben. Zugleich jedoch konkurrierten sie miteinander, etwa um Nahrung, Paarungspartner oder Rangvorteile. Neid war dabei der Antrieb für unsere Vorfahren, ihr Los nicht einfach hinzunehmen, sondern die Hierarchie der Gruppe in Frage zu stellen und ihre Position darin zu verbessern, sagt der US-Anthropologe Christopher Boehm. Man mag einen solchen Antrieb aus heutiger Sicht für eine fatale Erfindung der Natur halten. Doch sie hat vermutlich entscheidend zum Gelingen der menschlichen Evolution und zur Herausbildung komplexer Gesellschaften beigetragen.

Allerdings taten sich schon in der Antike die Menschen schwer mit Neidgefühlen. Der Philosoph Demokrit beispielsweise zählte den Neid neben der Eifersucht und der Feindschaft zu den Geistern, die nur Unheil über die Menschheit brächten. Auch der Versuch, den Neid körperlich zu lokalisieren, stammt aus jener frühen Zeit. Der griechische Arzt Galen, der glaubte, dass für das Wohlbefinden eines Menschen eine gute Mischung von vier Körpersäften (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) vonnöten sei, führte den Neid auf einen Überschuss an gelber Galle zurück. Vermutlich liegt hier auch der Ursprung der Redewendung, jemand sei »gelb vor Neid«.

Als Papst Gregor I. im Mittelalter die sieben Todsünden zusammenstellte, zählte er selbstredend auch den Neid dazu. Aber während manches aus Gregors Liste wie Zorn, Völlerei, Wollust oder Hochmut heute in die Obhut von Therapeuten fällt, gibt es für den Neid seit jeher keine mildernden Umstände. Der britische Gelehrte Francis Bacon nannte ihn den verwerflichsten und niedrigsten Affekt des Menschen, und Kant sprach vom »scheußlichsten Laster einer grämischen, sich selbst folternden und auf Zerstörung des Glücks anderer gerichteten Leidenschaft«.

Tatsächlich ist Neid zumeist das Resultat eines Vergleichs mit anderen. Das können Fremde sein, aber in der Regel sind es Verwandte, Bekannte oder Kollegen. Weder der immense Reichtum eines Bill Gates noch die Attraktivität einer Angelina Jolie dürften bei den meisten Männern und Frauen hierzulande echte Neidgefühle erwecken. Anders sieht die Sache aus, wenn es um das teure Auto eines Kollegen, die exotische Urlaubsreise eines Nachbarn oder den Erfolg eines Bekannten bei Frauen geht. Hier können viele ihren Neid kaum unterdrücken, auch wenn sie alles tun, es äußerlich zu verbergen.

Anlässe, neidisch zu werden, gibt es zuhauf. Besonders im Berufsleben, wo Menschen sich unentwegt einem Vergleich mit anderen ausgesetzt sehen. Jemand wird befördert, bekommt mehr Geld oder mehr Anerkennung vom Chef, und schon ist der Neid bei Kollegen programmiert. Untersuchungen haben ergeben, dass hinter rund 60 Prozent aller Mobbing-Fälle in Deutschland Neid steckt. Unter Freunden kommt Neid dagegen seltener vor, was Sofsky etwas spitz so begründet: »Die meisten Freunde verdankt der Mensch dem Umstand, dass sie ihm keinen Grund für Neid geben.«

Reiche häufiger neidisch als Arme

Es wäre übrigens ein Irrtum anzunehmen, dass wachsender Wohlstand Menschen zufriedener und damit weniger neidisch mache. »Je offener die Gesellschaft und je transparenter die Märkte und Milieus, desto größer das Wissen davon, was man entbehrt und was man besitzen möchte«, schreibt Sofsky. Materielle Knappheit sei für Neid nicht notwendig. »Habenichtse zeigen oft weniger Missgunst als Begüterte.«

Oft wird auch behauptet, dass Neid eine Triebfeder des Wettbewerbs, ein Motor des Fortschritts sei. Das wäre allerdings zu viel Lob für ein Gefühl, das keine positiven Idole kennt, wie Sofsky meint. Das Bemühen, jemandem nachzueifern und ihn gegebenenfalls zu übertreffen, sollte man eher mit dem schönen deutschen Wort Ehrgeiz umschreiben. Denn der Ehrgeizige strebt danach, etwas aus eigener Kraft zu erreichen. Neid kennt dagegen keine Bewegung nach oben. »Er will den anderen am Boden sehen«, so Sofsky. »Neid ist eine ganz und gar negative Kraft, die nichts als Ruin und Verderben bringt.«

Dass Menschen, die gegen soziale Missstände aufbegehren, nur neidisch auf den Besitz anderer seien, wie es oft heißt, mag hier und da durchaus vorkommen. In den meisten Fällen jedoch wehren sich diese Menschen nur dagegen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr vergrößert. Allein in diesem Jahr werden in Deutschland über 300 Milliarden Euro vererbt, von denen der Staat nur einen Bruchteil als Steuern kassiert. Wenn Politiker angesichts solcher Zahlen die Einführung einer sogenannten Reichensteuer fordern, ist das mithin kein Neid, sondern Ausdruck eines verletzten sozialen Gerechtigkeitsgefühls.

Kapitalismus als Quelle des Neides

Nach einer 2009 veröffentlichten Studie »Neid und Neidbewältigung in Deutschland« sind Menschen, die das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit befürworten, am wenigsten neidisch. Sie tolerieren auch ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit, solange alle die gleichen Startchancen haben. Davon kann jedoch im globalisierten Kapitalismus keine Rede sein. »Die sozialen Verhältnisse bringen andauernd Gründe für Neid hervor - ohne dass uns ein Maßstab wie die Leistungsgerechtigkeit bei seiner Bewältigung helfen könnte«, sagt der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel. Am härtesten trifft es dabei jene, die in unserer Gesellschaft nicht einmal mehr dafür »taugen«, als Arbeiter ausgebeutet zu werden, »denn sie haben keine Chance, durch eigene Leistung einen Anspruch zu erwerben, auf den sie nachher pochen könnten«.

Seit Jahren gehört es zu den Ritualen neoliberaler Politik, die sogenannten Unterschichten des Sozialneids zu bezichtigen. Wer so redet, verkennt paradoxerweise, dass die Vermögenden hierzulande mit dem Neid von Menschen durchaus gut leben können. »Solange Unzufriedene auf höhere Klassen nur neidisch sind, eifern sie ihnen mehr nach, als dass sie sie stürzen wollen«, betont Neckel. »Durch den gemeinsamen Wertbezug auf ein gleichermaßen begehrtes Objekt bindet Neid Konkurrenten auch aneinander.« Erst wenn die Lebensperspektiven der wenig Begüterten aussichtslos seien, könne aus Neid Wut werden - und Auflehnung. Doch wie die Ergebnisse der jüngsten Bundestagswahl zeigen, sind wir von solchen sozialen Verhältnissen noch weit entfernt.

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