Er erträgt kein Leiden, das ist alles

Vor 200 Jahren wurde der so bedrängend 
zeitgenössische Dichter Georg Büchner geboren

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 8 Min.

Den vielleicht schönsten Aufsatz über Georg Büchner schrieb 1981 einer der fühlsamsten Essay-Dichter Deutschlands, Martin Walser. Darin die Worte: »Das entlastende Gerechtigkeitsprinzip unseres modernen Gottes: Vor der Leistung sind wir alle gleich, und nach der Leistung wird man sehen, was einer bringt. Wir wählen einen Gott nicht ab, wenn er nicht hilft. Wir haben ihn dazu gewählt, dass er unsere Unfähigkeit zu helfen – legitimiert  ...  Büchner aber kann Menschen nicht leiden sehen, das ist alles. Das Leid der anderen ist aufdringlicher als das eigene. Wie das Volk bei ihm vorkommt, zeigt, wo für ihn Gott zu suchen gewesen wäre.«

Ja, im Gegensatz zwischen den Armen und dem Adel, den Ruinierten und den Reichen liegt für Büchner »das einzige revolutionäre Element der Welt«. Vorübergehende grüßt er mit »Bonjour, citoyen!« Weil in seiner Heimat Hessen kein Industrieproletariat existiert, setzt er Hoffnungen in die Bauern, weiß doch aber auch ums Gesetz der gemeinen Seele: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« Schreibt er 1835 an Karl Gutzkow. Sarkastischer Witz, abgrundtiefe Schwermut. Es sind die verängstigten Bauern, die jedes gefundene Exemplar des aufrührerischen »Hessischen Landboten« zur Polizei bringen. Ein Fanal wollte Büchner setzen, in die Flucht wird er geschlagen.

Dieser 1813 in Godelau Geborene, ein Sonntagskind (in Leipzig tobt die Völkerschlacht), 1837 an Gehirnkrankheit im Schweizer Exil gestorben: Er war Revolutionär – und er war ein am Revolutionieren Leidender. Er war Anarchist – aber dies mit feinsten Regungen. Er stand Nietzsche so nah wie den Gedanken von Marx und Engels. Ein Sohn aus dem Haus eines Militärarztes, der auf die Barrikade wie auf eine Bühne kletterte, scharf pamphletisch, unverfroren hitzig. Aber aus der Kulisse ruft er sich auch immer selber zu, womit im Drama Danton mit Robespierre ins Gericht geht: »Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst!«

Nichts schädlicher für die Revolution als ein selbstzweifelnder, reflektierender Kämpfer – das meinte nach der »Revolutionsfeier« vom November 1918 im Münchner Nationaltheater schon Thomas Mann, »ich bin neugierig, wie man mit der Skepsis in ›Dantons Tod‹ fertig wird. Sie wird im revolutionären Sinne gestrichen werden.« So geschah es später oft. weil sie im Weltanklägerischen auch das Menschenabsurde offenbarte. Wie es der Dichter in all seinen Werken zeigte.

Schriftstellerin Brigitte Kronauer: Anders als im »Hessischen Landboten« wisse Büchner dann, wenn er nicht agitiere, also in der Kunst, »dass die Welt nicht nur aus Hütten besteht, in denen verborgene Helden wohnen, und aus Palästen, in denen der Satan haust«. In seinem Werk finde sich nichts vom »verführerischen Abkürzungsdenken« und vom historischen Optimismus, mit dem die Klassenstandpunktfesten die Welt »bei Pannen und Ungereimtheiten wieder sauber zurechtklempnern« könnten. Die Welt? In Wahrheit ein Chaos, ein Spielball lächerlicher Göttergestalten, die sich einen Spaß daraus machen, jenem absurden Treiben zuzuschauen, das dem Menschen irrwitzigerweise als Leben gilt. »Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott und Teufel aus Langeweile eine Partie machen« (»Leonce und Lena«). Immer sucht dieser Dichter, unumkehrbar entflammt, nach Argumenten für den notwendigen Kampf wider die Mächtigen. Aber er sucht und wünscht sich andererseits Ruhe. Denn ist nicht ein Narr, wer da glaubt, wirklich mehr zu sein als der Schaum auf der Welle? Ist nicht ein Fantast, wer da meint, in dieser Welt etwas ausrichten zu können durch die Tat? »Wir haben nicht die Revolution, die Revolution hat uns gemacht«, so weiß Danton, der sich der öffentlichen Rolle, der »Nationalkühnheit«, entledigt, und fortan »Privatkühnheit« bevorzugt. Privatkühnheit? Es ist dies das Recht auf eigene Gedanken jenseits einer Lehre, die sich selber nur akzeptiert, wenn sie – herrscht.

Bei Büchner sind moderne Psychologie, Verzweiflung über Selbst- und Weltentfremdung, über Mechanisierung des Lebens und Langeweile als Grundgefühl flackernd und extrem mit seinem unbändigen Zorn vermischt; die Welt ist stets eine komplizierte und metaphysische, der Mensch ein Kompendium aus Bejahung und Verneinung – »es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke: ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind«. So heißt es in »Leonce und Lena«, und es ist, als sei's einem Kleist vorweggeschrieben, dem »auf Erden nicht zu helfen« war. Aber es muss doch geholfen werden! Büchners Schrei. Der hallt durchs Werk, da beugt sich der Revolutionär schon mit ganz ruhiger Hand über Fischleiber, studiert sezierend Nervensysteme.

Dank seiner tragischen Kürze blieb diesem Dichterleben die frühe Vergreisung der Platen und Grabbe, die langsame Verwitterung der Grillparzer und Mörike, das Elend eines Hölderlin-Schicksals erspart – überblickt man diese nur dreiundzwanzig Jahre eines Autors und Mediziners, so stehen bereits im frühesten Jugendalter reifste Erkenntnisse vibrierend hinter der Stirn – Erkenntnisse über die ewig unwürdige Zeit und zugleich das zeitlose Irren des Menschen darin. Auf schwang sich unter Napoleons Herrschaft das deutsche Selbstempfinden, aber Nationalgefühl und Freiheitssehnsucht würden nicht zusammenkommen. Wie das Niedrige nicht mit der Würde, der Gerechtigkeit. Wir sind beim Woyzeck.

Heiner Müller nannte ihn die blutende deutsche Wunde, und wenn es von diesem Wahnsinnsstück in den letzten Jahren eine Inszenierung gab mit einem gegenwartsstechenden, extrem aufrührerischen Geist, so war es Michael Thalheimers »Woyzeck« (Salzburg, Thalia Hamburg). Das war ein Vorschlag, wie Büchner derzeit zu denken sei. Peter Moltzens sehr heutiger Woyzeck, weißes Hemd über schwarzer Hose, steht inmitten einer kalt glänzenden Metallzelle. Steht und steht. Schaut ins Publikum. Wirft einen Blutbeutel an die Rückwand: »Der Mond, ein blutig' Eisen«. Woyzeck beobachtet (oder halluziniert!) die verrenkte Welt, die an ihm vorüberzieht. Das Provokative dieser Arbeit: Nicht nur Marie stirbt – Woyzeck mordet alle.

Büchners erschütterndste Gestalt ist hier nicht mehr das unschuldige soziale Opfer, an dem unser aller Mitgefühl sich so intensiv bestätigen darf. Ein Woyzeck, wie es ihn noch nie gab: Der Gedemütigte wandelt alle Ungeliebtheit, allen Hohn, die ihn treffen, in gefährliche Aggressivität um – die ihn zum Herrn just jener Verhältnisse macht, deren Objekt er doch ist. Der Ausgestoßene wird vom Bürger gequält und gehasst – er gibt Gründe für Hass bereitwillig vor. Letztmögliches revolutionäres Selbstbewusstsein.
Damit entwirft Thalheimer das Porträt einer sehr gegenwärtigen Ordnung: in der alle Lebenslust, die Welt zu verändern, so verhängnisvoll eng an Vernichtungslust gebunden ist. Weil sich nichts, aber auch gar nichts mehr tut! So kann die gebotene Befreiung von Feindbildern doch nicht die Sehnsucht nach ihnen abtöten. Das Paradox. Wir blicken auf die Bühne wie in unsere Gegenwart: eine Ordnung, in der auch jede Gewalt, zu der die Ausgebeuteten zu greifen gezwungen sind, längst ihren unantastbaren moralischen Kredit verlor – obwohl man zugleich Verständnis behält für diese Gewalt. Sie sich an verfettete Hälse wünscht.

Woyzeck, der Fundamentalist, der Amokläufer, der Attentäter – weil sie arm sind, sind die Woyzecks nicht die besseren Menschen, aber ihre Armut adelt ihre Gefährlichkeit. In seiner mörderischen Selbstbefreiung ist Woyzeck ein gespenstisch eindeutiger Stilist des bewusst losstürmenden Außenseitertums.
Hat sich bei Becketts End-Spielen jeder Glauben in heiterer Verzweiflung selber hingerichtet, so schlug bei Thalheimer wieder ein Glaube durch, der Woyzeck zum kindlichen Philosophen seltsamer Rettung erhebt: Er gewinnt im Morden eine Welt zurück, die zwar wertlos, aber ihm die einzig mögliche ist. Das Messer springt geradezu sanft an Kehlen. Noch mal Heiner Müller: Für ihn war keine Geringere als Ulrike Meinhof Woyzecks Schwester, endend »mit dem blutigen Halsband der Marie«.

Am Ende »still, alles still«. Es ist just diese Traurigkeit, die Büchners Werk so zeitlos hält. Dass im Ende ein bebender Anfang liegen könnte – es ist diese Hoffnung, die Büchners Werk so zeitgenössisch macht. Das
genial wahrhaftige Werk erzählt von packender Angstliebe zum gefährlichen, gefährdeten Lebendigen.
»Ich bin ein Automat, die Seele ist mir genommen«, klagt Büchner, im März 1934, seiner Braut nach Straßburg. Mit dem gleichen Bild endet die zwei Jahre nach dem Tod ihres Verfassers in Gutzkows »Telegraph für Deutschland« veröffentlichte Erzählung über den »unglücklichen Poeten« Jakob Michael Reinhold Lenz. Das Gefühl allumfassender Leere und grenzenloser Einsamkeit, die fatalistische Lethargie und das unbändige Verlangen nach Beruhigung teilt Lenz mit Danton. Und wie Leonce und Lena ein Arkadien ohne Uhren und Kalender suchen, so ersehnt auch Lenz einen utopischen Ort, an dem er mit den »verlornen Träumen« zu überwintern vermag.

Lebte er noch, er hätte diesen Ort – wie sein Dichter, der empörungsheftige Demokrat, der Menschenrechtler, der politische Flüchtling, der zarte Verzweifelte Georg Büchner – noch immer nicht gefunden.

Hermann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte eines Genies. Verlag C. H. Beck München. 592 S., geb., 29,95 Euro. 
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit. Verlag Hoffmann und Campe Hamburg.

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