Wie viele Mäuse hat die Welt?
Geschichten des unvergessenen Johannes Conrad
Die Kinder haben hellgelbe Kosmonautennasen. Wenn sie ins Schulheft schreiben, haben die armen Buchstaben Schüttelfrost und stehen da wie frierende Menschen bei Nasskälte an der Haltestelle. Der Weihnachtsbaum sieht aus wie ein völlig versautes Rumpelstilzchen. In die Stille der Schlafzimmerwelt hinein tickt der Wecker wie das Herz des lieben Gottes beim Schöpfungsprozess. Die Töchter des Garderobiers Hackmann sind zwei unheimlich dicke Sommerfalter. Und die Natur ist immer wieder auf besondere Weise rücksichtslos, indem sie auch höchste Frauenstimmen einsetzt ...
Sätze, zitiert aus Geschichten von Johannes Conrad, den nunmehr letzten, die in einer Sammlung bei »Eulenspiegel« erschienen. Gewissermaßen das Vermächtnis des scheuen, im vergangenen Jahr verstorbenen Erzählers, der lange, im Hauptleben, ein Kleindarsteller war. Noch zu Zeiten, da Dramatiker heftig hineingriffen ins volle Menschenleben, das ja sehr wesentlich aus Kleindarstellern besteht, und die Bühnen noch nicht sparen mussten an den vielen Nebennebenrollen Shakespeare oder Brecht hätten aus Kostengründen heute keine Chance mehr, es sei denn, sie schrieben Monologe oder Zwei-Personen-Stücke - letztere am besten als Poträts einer gespaltenen Persönlichkeit, wozu dann ebenfalls nur ein einziger Schauspieler gebräucht würde. Ein wendiger, wieselnder freilich. Nicht der dicke Mime Märzbacher, den Conrad schuf, ein Mann von Korn und Schrot und Bier - am alten Berliner Ensemble, wo auch Conrad arbeitete. Ach, die alte unsterbliche Garde der Kurzauftrittler. Olle Riemann sieht man noch, er führt Menschen durchs BE wie durch ein Museum, olle Buttchereit spielt noch ... Zeiten waren das, da hing noch Picassos Friedenstaube im oberen Foyer, »wie ein schöner ausgestopfter Bratvogel, der Frieden: zum Anbeißen schön« (Conrad). Da sah die Kantine noch aus wie ein wahrer Ort des Trostes, wo sich mittelmäßige acteurs eine Illusion von Aura in die dicke Nase trinken konnten. Bis sie der schönen Illusion verfielen, nicht nur Brecht verstanden zu haben, sondern - weit schwieriger dies - auch seine randlosbrilligen, kurzhaarigen Schüler.
Vorbei. Weswegen sich der letzte Erzählungsband des kleindarstellenden Großphilosophen Conrad auf das konzentriert, was ja wahrlich noch viel unbegreiflicher ist als das wichtighüpferische Tun dicker, fröhlich trinkender Mimen: Kinder. Und von denen die unbegreiflichsten: die eigenen. Reinste Mystiker und »kurze Berserker«. Die doch so merkwürdige Grundfragen stellen: Wie viele Mäuse es auf der Welt gibt. Oder ob Goldfische trotz des Wassers lachen können. Die »alle Fehler der großen Menschheit haben und aus jeder angebrannten Bratkartoffel höchst wundersame Lehren« ziehen. Und die Impfer werden wollen, Brausepulverschaummacher, Menschenfresser, während die Väter von einem zweiten Einstein träumen. Einmal ruft der Filius vor der HO-Tiefkühltuhe aus, die Grünkohlpackungen würden auch immer kleiner. Woraufhin der Verkaufsstellenleiter beweisen kann, dass es sich um feingefrostete Petersilie handelt. Der Vater geistesmesserscharf: »Ich bin überzeugt, der Junge wird Theaterkritiker.«
Conrads Erzählungen - über Bockwurst und Nusstorten, Pionierappelle und blaue Wellensittiche, Malbuchäpfel und Köpfe voller Löffelerbsen, Holzwürmer und Wandzeitungen - sind witzig, liebevoll beobachtend, von einer hochgradigen Erregbarkeit durch das schöne Wunder Leben.
Begleitet werden die Geschichten von skurrilen Zeichnungen Horst Jankofskys (gestorben 2002), auf denen die Menschen große Staunglubsch-Augen haben. Und diese merkwürdig sich in die Landschaft verlierenden, sich in die gegend hineinzitternden Nasen, die aussehen, als sehnten sie sich danach, eine Möhre im Gesicht eines Schneemanns zu sein. Und immer spritzen von den Köpfen dieser Menschlein dicke Schweißtropfen - das macht die Verdutztheit oder das Nachdenkenmüssen oder überhaupt das Staunen darüber, was das Leben so an Überraschungen bereithält: »Das Leben macht es einem manchmal ganz schön klar, dass man so dämlich - wie...
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