Uneasy Listening
Live: Colin Stetson / Sajjanu
Für Freunde moderner Klangkunst, die weder den neuen Deppen-Rap von MC Dingsbums noch das Gedudel aus den Radiostationen hören möchten, gibt es heute in Berlin gleich zwei absonderliche Konzerte an ausgewählt pittoresken Orten: Zum einen tritt der kanadische Saxophon-Virtuose Colin Stetson gemeinsam mit Holger Hiller, Mitbegründer und Sänger der deutschen Postpunk-Combo Palais Schaumburg, in der Großraumdiscothek Berghain auf.
Zum anderen kann man die japanischen Lärm-Virtuosen Sajjanu zusammen mit verwandten Experimentierwütigen in der ans Westberlin der 1980er Jahre erinnernden Fabriketage »Bei Ruth« erleben, die versteckt in einem Hinterhof im Neuköllner Industriegebiet liegt.
Stetsons Aufgeschlossenheit in Fragen des Stils führte ihn bisher in ganz verschiedene Richtungen: Einerseits scheut er sich nicht, sich mit seinem eigenwilligen, kraftvollen Saxophonspiel am orchestral aufgeblähten Pomp-Pop von Arcade Fire zu beteiligen oder mit Kitschfolk-Barden und bärtigen Wollmützenträgern wie Bon Iver zusammenzuarbeiten, andererseits gibt es auch keine Berührungsangst mit Künstlern wie dem deutschen Free-Jazz- und Krachmusikpionier Peter Brötzmann.
Unter Zuhilfenahme kniffliger Atemtechniken, die ihm ein extrem dynamisches Spiel ermöglichen, entlockt er seinem Instrument Töne, die manchmal an die bedrohlich surrenden, beklemmenden Soundtracks von Angelo Badalamenti erinnern, aber auch den grellen Sound des Nebelhorns eines Schiffes imitieren oder die Schreie einer gequälten Kreatur nachahmen. Ein tiefes Gefühl der Resignation schwingt auch stets mit. Das Musikmagazin »Spex« schreibt, Stetsons Sound sei »stets bedrohlich, rastlos, von verstörender Untiefe«.
Das aus Tokio stammende Trio Sajjanu hingegen, das in der Tradition von Noise-Größen wie Melt Banana und John Zorn steht, praktiziert eine Musik, in der jede Form der Repetition bewusst vermieden werden soll. Soeben glaubte man noch, dreißig Sekunden lang einen überaus komplex verzwirbelten Progressive Rock zu hören, doch schon einen Augenblick später hat man den Eindruck, zwei an Hyperaktivitätsstörung Leidende üben angestrengt, zu wirren Stop-And-Go-Beats in Hochgeschwindigkeit Tonleitern rauf und runter zu spielen, und lassen einen Rasenmäher dazu laufen. Als würde man in einem Auto sitzen, in dem der Fahrer gleichzeitig Vollgas gibt und alle Bremsen fest angezogen hat. Den freien Fluss der Klänge soll möglichst nichts hindern, und jedes Muster an Tönen, das im Verdacht stehen könnte, wiedererkennbar zu sein, wird schon im Ansatz eliminiert. Eine schöne Musik für Menschen, denen das Frühwerk von Sonic Youth als zu kommerziell und kompromisslerisch gilt. Uneasy Listening für Fortgeschrittene.
Colin Stetson / Holger Hiller im Berghain. Sajjanu im Bei Ruth.
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