Reptilien als Modetrend

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

An meinem Schlüsselanhänger baumelt ein Maulwurf. Kein echtes Exemplar, sondern die Plüschvariante eines tschechischen Kinderstars. Einigen Chinesen scheinen Comcifiguren oder realitätsgetreue Abbilder der Natur als Accessoire allerdings nicht auszureichen. Als großer Trend in Fernost gelten zurzeit Schlüsselanhänger mit lebenden Kleintieren, wie Echsen, Schildkröten und Fischen. Laut Herstellern sollen diese, extra für diesen Zweck gezüchteten, Lebewesen in den kleinen Plastikbeuteln bis zu zwei Monate überleben können.

Es gehört nicht viel dazu, diesen Trend als pervertierte Form des Wettlaufs um das sinnloseste Liftstyleprodukt an den Pranger zu stellen. Tierschützer haben diese Form der Tierquälerei längst als Ziel entdeckt und laufen seit Monaten Sturm gegen die Hersteller. Das Kampagnennetzwerk Avaaz hat bereits im März eine Onlinepetition gestartet, deren Unterzeichner ein Verbot dieser tierquälerischen Praxis fordern. Ob die chinesischen Behörden ernsthaft unter dem virtuellen Protest von inzwischen immerhin mehr als 580000 einknicken, darf bezweifelt werden. China ist nicht gerade für seinen strengen Tierschutz bekannt und ironischerweise sind die Hersteller solch sinnfreien Wohlstandmülls ein wunderbarer Resonanzkörper dafür, um zu zeigen, wie zynisch das Verhältnis der meisten Menschen zu Tieren ist.

Ein Blick in die Kommentarspalten des Internets offenbart das Dilemma, in dem viele selbst ernannte Tierschützer stecken. »Das muss aufhören«, »Absolut pervers« und »Wie kann man so etwas nur tun?« sind mit weitem Abstand die häufigsten Reaktionen von Lesern, wenn sie über einen Beitrag zu den lebenden Schlüsselanhängern stolpern. Ein riesiges Erregungspotenzial bricht sich beim Gedanken an diese offensichtlich herzlosen Unternehmer Bahn und man möchte die in Erregung versetzten Tierliebhaber am liebsten fragen, wann sie zuletzt in ein Salamibrötchen mit Ei und Remouladensoße gebissen haben.

Worin unterscheidet sich die Situation eines Schweins in einer Tierfabrik der Fleischindustrie vom Leben eine Minischildkröte in ihrem mit Flüssigkeit gefüllten Plastikgefängnis? Während sich die Schildkröte bequem in der Hosentasche tragen und bei Belieben dem Freundeskreis als neuster Trend vorzeigen lässt, fristet das Schwein fernab des menschlichen Alltags ein klägliches Dasein bis zu seinem Tod, um dann eines Tages auf unseren Tellern zu landen. Dies geschieht allerdings in einer derartig abstrakt-anonymisierten Form, dass die Konsumentenschar selten einen Gedanken an den bis dahin abgelaufenen Produktionsprozess ihrer Mahlzeit verschwendet. Das lebendige Kleintier erregt die Tierschützergemeinde vor allem, weil es droht, als Mahnmal einer milliardenfachen Praxis der Tierausbeutung von unserem Alltag Besitz zu ergreifen. Hier geht es weniger um das Recht des Tieres auf Unversehrtheit als viel mehr um die Ruhigstellung unseres Gewissens.

Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert oft der lokale Protest gegen den Bau neuer Schweinemastanlagen: Die Erregung dagegen richtet sich meist nur gegen das, was wir von den Tierfabriken in Form von fürchterlichen Gestank und Umweltverschmutzung unmittelbar wahrnehmen. In solchen Fällen waren die Unternehmen im Grunde genommen einfach nur zu blöd, sich ein freies Plätzchen fernab eines Dorf- oder Stadtrands zu suchen, wo ihnen der Protest – mit Ausnahme der überschaubaren Tierrechtsszene – erspart geblieben wäre.

Wer sich über Tiere in Plastikbeuteln aufregt, weil er dies als Quälerei erachtet, müsste doch theoretisch die gleiche Reaktion zeigen, wenn es um das Leid von Schweinen, Rindern und Hühnern geht. Dass dem mehrheitlich nicht so ist, hat mit unserer speziesistischen Denkweisen zu tun, die es uns ermöglicht, Tiere in Kategorien einzuordnen, deren Merkmale sich je nach Kulturkreis unterscheiden. In der Sache folgt dieses Kategorisierung immer dem gleichen Muster. So gilt die Schildkrötenhaltung in Europa allenfalls in gut ausgebauten Terrarien und Zoos als akzeptiert, während diese Reptilien etwa in Vietnam auf der Speisekarte stehen und im Fall Chinas als Schlüsselanhänger herhalten müssen. Speziesismus erlaubt es uns, dem Leben von Tieren unterschiedliche Wertigkeiten zuzusprechen. Deshalb können wir uns über das Leid von Schildkröten empören und gleichzeitig genussvoll in ein Schnitzel beißen, ohne uns vor dem eigenen Verhalten zu ekeln.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: Vleischeslust