Eine Dalit-Familie auf dem Weg nach oben

»Mistkäfer« oder »Müllratten« mussten sie sich schimpfen lassen, selbst von anderen Kastenlosen wurden die Banghis verachtet. Die Sulabh-Bewegung unterstützt die einst Unberührbaren und sorgt sich zugleich um die Lösung eines Hygiene-Problems

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Schmuck sieht sie aus, die 42 Jahre alte Yogender Devi, mit dem goldenen Ohrgehänge und der Mangalsutra, der Halskette, die ihren Ehestand anzeigt. Der weiße Chunni, ein Seidentuch, bedeckt nur halb ihr rabenschwarzes Haar. Und wenn sie lacht, strahlen ihre schneeweißen Zähne. Doch im Moment blickt sie sehr nachdenklich drein. Mit gemischten Gefühlen steht sie vor dem Mahnmal aus Kalkstein: Eine Frau, den Sari fast bis zum Knie gerafft, balanciert, mit der rechten Hand unterstützend, auf ihrem Kopf einen Blechkanister. Die Figur soll einen Erfolg der landesweiten Sulabh-Bewegung symbolisieren. Gegenstand ist der Kampf gegen das soziale Übel der manuellen Toilettenreinigung. Zu dieser Tätigkeit wurden bereits vor Jahrhunderten unberührbare Kastenlose, die ausgegrenzten Dalits, speziell aber die Balmikis verdammt. Sie bilden die unterste Stufe im hinduistischen Kastensystem und werden selbst von anderen Geächteten - den Totengräbern, den Gerbern oder Beseitigern von Tierkadavern - missachtet. Yogender Devi und ihre Familie gehören zur Gruppe der Balmikis. Mit gemischten Gefühlen schaut sie auf das Mahnmal, weil es in Indien einerseits noch immer mindestens 350 000 empörend mies entlohnte Toilettenreiniger gibt und weil es andererseits ihrer Familie gelungen ist, sich aus den Fesseln dieser Fron zu befreien. Ihr Gatte, Madan Mohan, arbeitete jahrzehntelang als »Bhangi« oder »Sandas«, wie die Entsorger menschlicher Exkremente im nördlichen Indien heißen. Er musste sich die Schmähungen und Schimpfwörter, die übersetzt etwa »Mistkäfer« oder »Müllratte« lauten würden, gefallen lassen. Er durfte, dem Kastenkodex entsprechend, keine Widerrede wagen. Die Familie stammt aus Narela im Unionsstaat Haryana. Yogender Devi hatte zwar nie als Bhangi zu arbeiten, spürte die gesellschaftliche Diskriminierung in ihrer Jugend jedoch auf andere Art - bei der Zwangsarbeit auf dem Feld für die Oberkasten, die streng auf das Einhalten der Unberührbarkeit pochten. Heute lacht sie über den Unsinn: »Das Getreide wurde von uns, getrennt nach Kastenzugehörigkeit, geschnitten. Aber am Ende warfen wir es doch auf den gleichen Haufen vor der Dreschmaschine.« Wasser mussten die Balmikis aus einem gesonderten Brunnen schöpfen. Und natürlich wohnten sie in einer ärmlichen Siedlung, getrennt von den anderen Kasten. Noch heute betrachtet sie es als Wunder, dass es ihr gelang, nach der Feldarbeit die Schule bis zur 8. Klasse zu besuchen. Nach ihrer Heirat leitete der Umzug nach Delhi in die Siedlung Palam Extension, früher »Harijan Basti« genannt, was etwa Viertel für Unberührbare bedeutet, den Wandel ein. Ihr Mann fand eine Anstellung in der Abteilung für Abfallbeseitigung der Stadtverwaltung Delhis. Das war möglich, weil es Gesetze gibt, die eine Beschäftigungsquote für Dalits in öffentlichen Institutionen festlegen. Madan Mohan nutzte die Chance, qualifizierte sich und ist heute als Inspektor tätig. Die fünfköpfige Familie besitzt eine bescheidene Zweizimmerwohnung. Zur Einrichtung gehören Radio und Fernseher, »obwohl der nur zu den Nachrichten und zur Sendung "Wer wird Millionär?" läuft«, betont Frau Devi. Ihr Mann, auch das offenbart den Aufstieg der Familie, leistet sich ein für einen Balmiki nicht gerade typisches Hobby: Er musiziert, spielt Saxophon, Flöte, Harmonium und Synthesizer. Die drei Jungen besuchen die Schule. Rahul Babbar lernt in der 9. Klasse der Sulabh-Mittelschule in Delhi-Palam, an der 300 Kinder, darunter 60 Prozent aus Dalit-Familien, unterrichtet werden und - was in Indien für die Karriere wichtig ist - Englisch lernen. Rahul zählt zur Spitzengruppe in seiner Klasse. »Aber der Beste ist Amit, dessen Eltern auch jetzt noch als Bhangi arbeiten«, erzählt er. An der Schule existieren keine Kastengrenzen mehr. Rahul will Ingenieur werden. Und hat, wie sein Vater, eine künstlerische Ader. Er zeichnet großartig und zeigt uns ein paar Kostproben, darunter Porträts von Aishwarya Rai, Indiens Schönheitskönigin, und von der Hindu-Göttin des Lernens und Wissens, Saraswati. Die Mutter hört ihrem 15-Jährigen mit unverhohlenem Stolz zu und kommentiert: »Der macht seinen Weg.« Mit den Brüdern sitzt er täglich bis Mitternacht über den Hausaufgaben, hilft den beiden - und der Mutter. Denn die bleibt wach, serviert ab und an Tee und lernt Englisch, bis die Jungen zu Bett gehen. »Ich habe viel nachzuholen und möchte Vorbild auch für die Nachbarn sein«, gibt sie zu. Sie isammelt Geld für gemeinnützige Zwecke, organisiert Veranstaltungen und genießt deshalb einen guten Ruf in der Siedlung. Die einstige Bhangi-Familie hat nicht vergessen, dass sie den Weg zu menschenwürdigem Dasein nicht allein eigener Strebsamkeit verdankt, sondern auch dem Einsatz anderer. Da ist die soziale Organisation »Sulabh« (Zweckmäßigkeit, Annehmlichkeit). Von deren Mitarbeitern kam die Initiative, Familien aus der gesellschaftlichen Elite für eine »Patenschaft« über Bhangis zu gewinnen und sie im Bemühen um soziale Gerechtigkeit zu unterstützen. 250 derartige Patenschaften existieren inzwischen. Der Minister für Erdölwirtschaft, Mani Shankar Ayiar, betreut Yogender Devi und Madan Mohan seit vier Jahren. Er lud die Familie in seinen heimatlichen Unionsstaat Tamil Nadu im Süden Indiens ein. Erstmals in ihrem Leben saßen die fünf in einem Flugzeug, als sie nach Chennai reisten. Erstmals sahen sie dort das Meer - unver-gessliche Erlebnisse. Der Minister steht mit Rat und Tat bereit, wenn seine Paten ernste Probleme haben, wenn bürokratische Schranken oder versteckte Benachteiligungen zu überwinden sind. Im Jahre 1970 gründete Dr. Bindeshwar Pathak, ein Gandhianer, im Unionsstaat Bihar »Sulabh« als Organisation für Sozialdienste. Sie hatte sich zunächst die Abschaffung der manuellen Toilettenreinigung zu Ziel gesetzt - eine revolutionäre Maßnahme. Als Brahmane, Angehöriger der höchsten Kaste, setzte sich Pathak über ein Tabu hinweg. Mit dem Schicksal der Bhangis hatte sich bis dahin niemand befasst. Erst viel später sollte ein Gesetz das archaische Toilettensystem bis zum Jahre 1997 beseitigen. Das gelang bis heute nicht. Dennoch wartet Prof. Satyendra Tripathi von Sulabh mit einer ansehnlichen Bilanz bisherigen Wirkens auf: 60 000 Bhangis wurden umgeschult, 240 Städte vom alten System befreit, landesweit mehr als eine Million private und i über 6000 öffentliche Spültoiletten sowie 120 an Gemeinschaftstoiletten gekoppelte Biogasanlagen gebaut. Sulabh war die erste Organisation Indiens, die sich diesem Thema überhaupt widmete, die es in die Öffentlichkeit brachte und damit einen Beitrag zur praktischen Abschaffung der Unberührbarkeit (die schon in den 50er Jahren per Gesetz verboten worden war) und zur schrittweisen Beseitigung von Auswüchsen des Kastenwesens leistete. Unter Dr. Pathaks Führung entwickelte sich Sulabh zu einer Sozial- und Hygiene-Bewegung mit 50 000 Freiwilligen in allen Unionsstaaten. Sie eröffnete mehrere Schulen für Bhangi- und andere Dalitkinder, organisiert Alphabetisierungkurse in Slums und eine Berufsbildung für Jugendliche aus sozial schwachen Familien, entwickelt umweltfreundliche Reinigungs- und Entsorgungstechnologien und baute ein eigenes Institut für öffentliche Gesundheit und Hygiene mit Vorbildfunktion für andere Entwicklungsländer auf. In ein paar Jahren wird sie in Haryana die »Sulabh International University of Sanitation and Technology« mit fünf Fakultäten einrichten. Und nicht zuletzt nimmt sie regelmäßig an den Toiletten-Weltkongressen teil und besitzt das größte Toiletten-Museum der Welt. Mit dem Engagement von Sulabh ist - abgesehen von der Unterstützung für die Bhangis - die Lösung eines enormen gesamtgesellschaftlichen Problems verbunden. Laut Volkszählung von 1991 hatten nur knapp 24 Prozent aller indischen Haushalte eigene Toilettenanlagen und davon waren ein Drittel Eimer- oder Trockenaborte, die von den Bhangis entsorgt werden mussten. In den ländlichen Gebieten verfügten lediglich 9,5 Prozent aller Haushalte über eine Toilette. Etwa 700 Millionen Inder verrichten noch heute ihre Notdurft im Freien, auf Feldern, in Straßengräben, auf Eisenbahnanlagen oder an Ufern von Seen und Flüssen, was ein beträchtliches Gesundheitsrisiko darstellt. Denn es begünstigt das die Verbreitung von Cholera, Typhus oder Hepatits. Raghuvansh Prasad Yadav, der Minister für ländliche Entwicklung, hält die alten Gewohnheiten für skandalös. Er will verbieten, dass Bürger, die Häuser ohne Toiletten bauen, für die Volksvertretungen kandidieren. »Wenn sie nicht einmal für eine Toilette sorgen, welchen Nutzen können sie dann für die Wähler haben?«, fragte er provozierend. Bereits Jawaharlal Nehru, der erste Premier Indiens, stellte fest: »Jener Tag, an dem jeder von uns eine eigene Toilette benutzen kann, wird für mich der Beweis sein, dass unser Land den Gipfel des Fortschritts erreicht hat.« Trotz Sulabhs Wirken liegt...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.