Das erste Sozialkaufhaus Berlins befindet sich in der Friedrichstraße - nicht weit entfernt vom Lafayette
Christina Matte
Lesedauer: 10 Min.
Die Friedrichstraße zieht sich gleich durch zwei Berliner Stadtbezirke: Sie beginnt in Mitte und endet in Kreuzberg. Während sie sich in Regierungsnähe mit Designerboutiquen und Einkaufspalästen wie eine Diva mit Klunkern schmückt, ist sie in Kreuzberg bestenfalls noch eine Hausfrau in Kittelschürze. Pfennigland mit Zeitungsläden und türkischen Imbissstuben. »Aber auch wir haben Laufkundschaft«, pranzt Rolf. »Früher sind die Touris nur bis zum Checkpoint Charlie jekommen, jetzt müssen se bei uns vorbei, wenn se ins Jüdische Museum wollen.« Rolf stammt aus dem Harz, berlinert aber perfekt, weil er schon ewig in der Hauptstadt lebt. Als er herzog, war es noch die Hauptstadt der DDR. Jetzt arbeitet er im »KaDeWe für Arme«, wie er es nennt.
Im KaDeWe für Arme gibt es alles, was es auch im richtigen KaDeWe gibt: Mäntel, Gardinen, Toaster, Skier, Hemden, Tapeten, Blumenvasen, Pullover, Silber- und Goldkettchen, Ringe, Armbänder, Jacken, Koffer, Kaffeemaschinen, Tafel- und Kaffeeservices, Fernseher, Computer, Mützen, Fahrradhelme, Inlinescater, Tassen, Gläser, Blumenvasen, Teekannen, Hometrainer, Kerzenständer, Puzzles, Schallplatten, Videorecorder, Hüte, Tischdecken, Bilderrahmen, Katzenkörbe, UV-Strahler, Lampen, Kochtöpfe, Teddybären, Mixgeräte, Mikrowellenöfen, Taschen, Bierseidel, T-Shirts, Kissen. Allerdings ist jedes Stück nur ein Mal vorhanden und nicht mehr neu. Dafür sind die Preise gegen die im KaDeWe ein Lacher: Ein Weinglas für 20 Cent! Auf dem Flohmarkt sind die Artikel drei Mal so teuer.
Das KaDeWe für Arme heißt eigentlich »motz. der Laden«. Und eigentlich ist »motz. der Laden« ein Sozialkaufhaus, das erste in Berlin. Sozialkaufhäuser schießen seit Hartz IV überall in der Republik wie Pilze aus dem Boden. Aber dieses entstand schon vor Hartz IV - Armut gibt es ja nicht erst seit heute. Schon vor elf Jahren gründete sich motz & co. als Verein für Obdachlose, für die Armut am Rande, für das Elend, das kaputte Familien, gescheiterte Karrieren, Suff und Drogen hervorbringt. Und motz e.V. fand, dass Sozialkaufhaus kein Name sei, der gut klingt. Die Menschen, die hier einkaufen, sollen sich nicht offenbaren müssen, sondern sich als Kunden fühlen, die etwas Schönes für sich erwerben: Kultur. Damit würden sie zugleich ein Stück von dem erwerben, was sie vielleicht schon einmal besaßen, aber verloren haben, nämlich Selbstwertgefühl. »Ohne Selbstwertgefühl hat man keinen Grund, etwas an seinem Leben zu ändern«, sagt Bernd Braun Er muss es wissen: abgebrochenes Studium, Mietschulden, knapp an der Zwangsräumung vorbeigeschlittert.
Bernd hat sich wieder aufgerappelt. Jetzt ist er Geschäftsführer von motz e.V. Wie er haben sich viele, die zum Verein kamen, wieder aufgerappelt, auch Rolf. Rolf hat nach seiner Scheidung auf der Straße gelebt und gesoffen. Jetzt ist er trocken, hat wieder eine Wohnung, ist Kassenwart bei motz e.V. und arbeitet zwei Tage in der Woche im »KaDeWe für Arme«. Etliche, die auch wieder von der Straße weg geschafft haben, holen sich hier ihre Erstausstattung.
Bernd und Rolf sind stolz darauf, dass ihr Verein inzwischen vier Sozialprojekte betreibt: zwei Redaktionen, in denen die Obdachlosenzeitung entsteht, ein Notübernachtungsprojekt mit 20 Schlafplätzen und jetzt eben den Laden. Er läuft. Ein Großteil der Artikel, die hier angeboten werden, sind Spenden. Die Leute bringen sie einfach vorbei, oder die Vereinsmitglieder holen sie zu Hause ab. Das meiste ergattern sie aber bei Haushaltsauflösungen. Sie entsorgen gegen Geld, doch vieles ist zu schade, um weggeworfen zu werden - es wird hier verkauft. Was sie damit einnehmen, reicht trotz der lächerlichen Preise aus, um Miete und Löhne zahlen zu können. »Wir schreiben eine rote Null«, sagt Bernd. Und dass es ein Wunder sei, dass das Konzept aufging. »Es sind ja alles schwierige Leute mit schwierigen Biografien, die das stemmen. Wären wir zur Bank gegangen, hätte man sich dort an die Stirn getippt: Zu Risiken und Nebenwirkungen ...« 24 Arbeitsplätze für Leute, die wieder auf die Beine gekommen sind, hat motz e.V. in den vier Projekten geschaffen. Bernd lacht: »Diese Pennerorganisation schmeißt den öffentlichen Kassen jährlich 10 000 Euro Steuern in den Rachen. Wer hätte das gedacht?«
Um zehn Uhr wird aufgeschlossen. Der erste, der heute hereinschaut, ist Herr K., ein Rentner aus Schöneberg. Er bringt in einer Plastiktüte einen Mantel, einen Pullover und Übergardinen. Dem Roten Kreuz wollte er die Sachen nicht vermachen, denn das, hat er gelesen, gebe nur einen kleinen Teil der Spenden an Bedürftige weiter; der größte Teil würde gewinnbringend verarbeitet. Rolf freut sich, sogar über die Tüte: Verpackungsmaterial.
Ein hohlwangiger, unrasierter Mann mit zerbombtem Gesicht tritt ein. Er heißt Ralph. An seiner Seite eine Frau, die gleich beginnt, sich umzuschauen. Auch Ralph schaut sich um, aber während sich die Frau für Klamotten interessiert, hat es ihm eine Silberkette angetan. Daran baumelt eine Jungfrau - sein Sternzeichen. Die Kette will er unbedingt haben; sie kostet auch »nur« sieben Euro. Ralph ist das allerdings immer noch zu teuer, denn er bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente, und die ist nicht »so doll«. Er sei HIV-positiv, erzählt er, seit zwanzig Jahren. Er klopft sich auf die Schulter: »Ich lebe immer noch!« Jeder ist eben auf irgendetwas stolz. Rolf holt ihm die Kette aus der Vitrine, »sieben Euro«, stöhnt Ralph, und Rolf findet, dass er im Preis etwas runtergehen sollte. »Weil du es bist, krichst se für fünffuffzich.« Ralph sagt: »Meine Begleiterin legt aus.«
Jeder Artikel ist ausgepreist, doch die Verkäufer, alle Vereinsmitglieder, haben einen Ermessensspielraum. Hat einer von ihnen das Gefühl, sein Kollege, der gestern den Preis festgesetzt hat, sei »total verpeilt« gewesen und ein Artikel absurd billig oder teuer, darf er rauf- oder runtersetzen. Rolf glaubt nicht, dass sieben Euro für die Kette zu viel waren, er ist einfach nur clever: Ein Geschäft ist besser als kein Geschäft. Schließlich ist er nicht blöd, war er nie. Im Gegenteil, gepflegt und dunkel gekleidet, versprüht er einen intelligenten Charme, an dem auch sein Dialekt nichts ändert: Wenn er berlinert, ist er mit seinen Kunden auf gleicher Augenhöhe, und das steigert den Umsatz. Rolf könnte jedem alles verkaufen, sogar Versicherungen. Hat er in seinem früheren Leben schon gemacht. Als es bereits abwärts ging. Aber über sein früheres Leben will er nicht reden, das sei abgehakt. Was zähle, sei sein Leben jetzt.
Einem Mann mit dumpfem Gesicht und aufgedunsenem Bauch, über den ein zu enger Anorak spannt, verkauft Rolf einen Fernsehapparat: für 15 Euro. Es handelt sich um eine alte Kiste, aber sie läuft noch. Der Mann, der sich einen schmuddligen roten Schal über den nackten Schädel gehängt hat, geht auf die Straße, um jemanden zu suchen, der ihm hilft, sein Schnäppchen nach Hause zu tragen. Er hat ein Zuhause, noch. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft dagegen wird bald keins mehr haben, hat Rolf gehört. Rolf will den Vereinsvorstand informieren, mal sehen, ob der noch was richten kann. Für Zwangsräumungen steht motz e.V. nicht zur Verfügung, nie.
Eine junge Frau läuft bereits ziemlich lange durch die Reihen zwischen den Regalen und Kleiderständern. Sie nimmt dies und jenes in die Hand, prüft es, legt es wieder zurück, greift erneut zu, wägt ab. Schließlich trägt sie einen Kinderpullover, etwas Unterwäsche und drei Handtücher zur Kasse. Obwohl ich nicht nach ihrem Namen frage, lehnt sie ab, mit mir zu sprechen. Ich stecke viele Abfuhren ein. Von der Frau, deren Scheitel grau herauswächst und die drei Kühlschrankbirnen braucht, von dem Russlanddeutschen, der einen Wintermantel anprobiert, von seiner Frau, die einen Salzstreuer kauft. Sie alle zeigen mir nicht die kalte Schulter, weil sie sich schämen würden - Scham ist ein Gefühl, das sie sich schon lange nicht mehr leisten können. Sie haben andere Sorgen. Ich lebe nicht in ihrer Welt; ihre Welt hat mit meiner nichts zu tun.
Wer hier kauft, kommt aus nackter Not. Das Mitleid, das Peter für sie aufbringt, hält sich allerdings in Grenzen. Sagen wir: Es hängt von seiner Tagesform ab. Peter ist 47, gelernter Maler und Lackierer, hat einen kaputten Rücken und die Kuppe eines Daumens zwischen den Flügeln einer S-Bahntür gelassen. Im Laden hat er eine volle Stelle und verdient 1200 Euro brutto. Nicht gerade viel, aber er kann davon leben. Er sieht hier »viel eigenverschuldete Armut, Leute, die nicht arbeiten wollen oder sich so abgewrackt haben, dass sie nicht mehr arbeiten können. Freilich verändere sich die Klientel. Mitten im Zeitungsviertel gelegen, ziehe der Laden zunehmend freie Journalisten an, die »fürn Appel undn Ei arbeiten, aber gut angezogen sein müssen. Und andere, die Wert darauf legen, dass man ihnen die Armut nicht ansieht. Das seien vor allem Menschen, die ihre Arbeit ohne Schuld verloren haben und jetzt von Hartz IV leben. Sie hätten zwar keine Chance mehr, aber noch Würde, um die sie kämpfen.
Wie Elvis. Der arbeitslose Kellner und Hartz-IV-Empfänger hat ein paar Schuhe für sich entdeckt. Sie sind schwarz, aus echtem Leder, solide gearbeitet und haben bestimt einmal nicht weniger als 100 Euro gekostet. Rolf überlässt sie ihm für fünf. Die Sohlen sind etwas abgelaufen, doch ein Schuster kann sie noch reparieren. Elvis sagt, wenn er hier keine Schuhe gefunden hätte, hätte er sich überhaupt keine »neuen« Schuhe leisten können. Dabei braucht er dringend welche. Mit den schwarzen Lederschuhen wird er bestimmt wieder von Kopf bis Fuß tipp topp aussehen.
Auch Heidrun P. sieht man nicht an, dass sie schon lange arbeitslos ist und von Hartz IV leben muss. Eher würde man vermuten, dass die 50-Jährige aus dem Berliner Osten im Büro arbeitet. Tut sie auch: Sie ist eine erfahrene Bürokraft, die jetzt auf Ein-Euro-Basis jobben darf. Heidrun P. hofft immer noch, dass man sie übernimmt. Obwohl sie schon weiß, dass sie »aussortiert« wird. »Das liegt nicht an meiner Arbeit«, erklärt sie selbstbewusst, »die wollen mich dort schon haben. Aber ehe eine Stelle geschaffen wird, wird lieber eine abgebaut.« Wie sie sich fühlen wird, wenn sie mit 50 ohne Perspektive wieder zu Haus sitzt, ahnt sie. Heute kann sie sich noch einmal etwas gönnen: Sie kauft eine kleine bemalte Teedose aus Blech und einen Aschenbecher, zusammen für 50 Cent.
Peggy K. aus Guben bezieht ebenfalls Hartz IV. 1990 zog sie nach Berlin und studierte Sozialpädagogik. Arbeitslos ist sie seit drei Jahren: Die freie Jugendarbeit wurde drastisch zurückgefahren. Im Sozialkaufhaus in der Friedrichstraße trifft man sie zwei Mal pro Woche. Sie arbeitet hier auf 165 Euro-Basis. Davon zieht ihr die Arbeitsagentur 61 Euro ab, finanziell lohnt sich der Job kaum. »Die Waschmaschine oder das Auto dürfen nicht kaputt gehen«, sagt sie gut gelaunt. Peggy ist, wenn sie hier ist, meist gut gelaunt. Dann könnte sie »den ganzen Tag singen, lachen und pfeifen«. Freunde haben ihr geraten: »Schaff das Auto doch ab!« Lieber isst sie eine Stulle weniger, als »dieses letzte Stück Unabhängigkeit« aufzugeben. Früher saß sie oft im Café, eine Cola für drei Euro kann sie sich heute nicht mehr leisten. Kino ist auch zu teuer. »Es bleibt einem gar nichts übrig, als sich zurückziehen.« Bei motz e.V. arbeitet Peggy, weil sie das nicht wollte.
Till H. probiert ein Paar Inline-scater an. Der 26-Jährige ist arbeitsloser Kindererzieher. »Kindererziehung wird in Deutschland mangels Geld und mangels Kindern klein geschrieben«, sagt er. Vielleicht geht er mit einem Freund in die USA, wo man sich über seine gute Ausbildung freuen wird. Vielleicht geht er auch nicht. Vielleicht nimmt er eine Stelle bei einer Freundin an, die im Osten eine freie Schule gegründet hat. Vielleicht. Erst mal sehen, abwarten. Till ist pfiffig: »Jeder weiß doch, dass es in Deutschland nicht mehr Arbeitsplätze geben wird. Sollen sich die um die Stellen prügeln, die unbedingt arbeiten möchten.«
Till will es nicht. Er möchte leben. Bis heute hat er das ganz gut geschafft. Seine Generation kann sich entweder an gestriger Normalität aufreiben oder eine neue Lebenseinstellung entwickeln. Till hat keine Wünsche. Ihm reichen pro Woche 20 Euro. Damit kommt er prima aus. »Man muss wissen, wo es warm ist, wo man umsonst duschen und essen kann, dann bleibt man sozialfähig. Schluss ist, wenn man zu stinken anfängt.«
Er stinkt nicht, er ist gut gekleidet. Er kennt einen Laden, in dem es noch billiger ist als hier: umsonst. Er weiss auch, wo man umsonst essen und mehrmals die woche Sport treiben kann. Das letzte Stück Seife hat Till vor vielen Jahren gekauft. Er duscht jeden Tag. Aber nicht zu Haus.
Till kauft die Inlinescater. Für zehn Euro sind sie okay. Er gleitet auf ihnen hinaus. In ein lustiges, armseligers Leben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.