»Es hat immer in mir um Hilfe geschrien«

Vor hundert Jahren wurde Marieluise Fleißer geboren

Die dunklen Jahre nahmen kein Ende. Sie war nun schon Mitte fünfzig und schleppte noch immer die schweren Ketten. Sie ächzte und stöhnte. Sie trauerte um die verlorenen Jahre, die Szenen und Prosaseiten, die nicht geschrieben wurden, die sinnlos vertanen Kräfte, das andere, eigentliche Leben. Noch immer schuftete sie, ausgepumpt und fast besinnungslos, im Tabakladen ihres Mannes, 13, 14 Stunden am Tag, jahrein, jahraus. Der Laden war ein Käfig, der ihr keine Freiheiten ließ und alle Energien löschte. Sie stehe vor der Notwendigkeit, schrieb sie im November 1955 an Brecht, sich von ihrem Mann zu trennen, »weil er mich völlig aufreibt mit seinem mörderischen Geschäft ...« Und an Feuchtwanger schrieb sie anderthalb Jahre später: »Mein Gott, wie habe ich es satt!«
Der Mann musste sterben, um ihr die Worte wiederzugeben. Da war sie 57 Jahre alt und als Schriftstellerin beinah vergessen. Ihre Dramen und Erzählungen, vor langer, langer Zeit entstanden, Arbeiten von Rang, so gut wie unbekannt. Sie kehrte, als sie zu sich gekommen war, an den Schreibtisch zurück, um nun endlich zu sagen, was so lange ungesagt blieb. Es kam der Erfolg und dann, zu ihrem Erstaunen, sogar der Ruhm. Plötzlich, als 70-Jährige, stand sie im Zentrum literarischen Interesses. Die Theater spielten ihre Stücke, man feierte und ehrte sie, und schließlich, 1972, edierte Suhrkamp auch noch eine dreibändige Ausgabe ihres Werks (die 1989 mit einem vierten Band komplettiert wurde). Endlich war Marieluise Fleißer als eine der großen Autorinnen des 20. Jahrhunderts etabliert.
Seitdem kennt man, in groben Zügen wenigstens, auch ihre Geschichte. Sie selber hat ja in ihren Texten immer wieder persönliche Gegebenheiten verarbeitet, und selbst wer nicht allzu viel über sie weiß, weiß doch zumindest, was sie im Prosastück »Avantgarde« über Brecht geäußert hat. Gerade diese 40 Seiten aber, die jetzt wieder in einer Taschenbuchauswahl der Erzählungen stehen, erweckten bei vielen Lesern den Eindruck, als habe sie mit dem Freund und Geliebten ihrer frühen Jahre radikal abrechnen wollen. Sie war über dieses »groteske Missverständnis«, wie sie in einer Notiz festhielt, sehr unglücklich. Die Korrespondenz, die Günther Rühle zum 100. Geburtstag der Fleißer soeben vorgelegt hat und die auch über das Verhältnis zu Brecht Auskunft gibt, lässt ahnen, wie erschrocken sie gewesen sein muss, als sie in Kritiken solche Schlussfolgerungen las. Der umfangreiche Band liefert, flankiert von einer temperamentvollen Biografie Carl-Ludwig Reicherts und einem glänzend dokumentierten Bild-Text-Band von Elfi Hartenstein und Annette Hülsenbeck, so viel authentisches Material, dass man die Geschichte dieser Frau nun genau verfolgen kann. Sie sei lebensuntüchtig gewesen und gleichzeitig unglaublich stark, hat Erich Kuby gesagt. Das Wort, zeigt sich nun, kommt der Wahrheit wohl näher als das aufgeregte Gerede, das sie hauptsächlich als armes Opfer männlichen Machtstrebens begreift.
Sie kam aus der Provinz. Zwar war es eine richtige Stadt, in der sie aufwuchs, aber der Geist, der in Ingolstadt herrschte, kannte keine Weite. Hier war man katholisch und streng, man achtete auf Anstand und Sitte, hier lernte man früh den Verzicht. Das Mädchen, in ein Regensburger Klosterinternat gesperrt, wurde aufs Ducken getrimmt. Das Gehorchen als oberstes Gebot, die höchste Tugend das Schweigen. Eigene Regungen verboten, eigene Wünsche nicht opportun, die Lehranstalt ein Gefängnis. »Damals«, erklärte sie, »wußte ich schon und lernte daraus für später, die Fesseln drücken umso ärger, je mehr man sich dagegen anstemmt.« In jener Zeit hat sie zu schreiben begonnen, Gedichte vor allem und kleine Geschichten. Es war die einzige Möglichkeit, die Fesseln nicht zu spüren. In München dann, beim Studium, lernte sie, was Hunger ist. Das Geld, das ihr der Vater spendierte, reichte nicht vorn und nicht hinten. Sie lief in einer geschenkten Regenjacke herum und nannte sich Lu. Den Namen gab ihr der Freund, ihr erster, ein Schriftsteller aus Luxemburg, der eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwand. Aus Lu wurde anschließend, wieder unter dem Einfluss eines Mannes, Marieluise. Der Anstoß kam diesmal von Lion Feuchtwanger, dem sie Anfang 1922 auf einem Faschingsball in die Arme gelaufen war und der ihren Vornamen Luise Marie einfach umdrehte. Er war 17 Jahre älter als sie, er war ein erfolgreicher Autor und Mittelpunkt eines Kreises literarisch ambitionierter Leute. Sie schleppte ihm alles hin, was sie schrieb. Er ließ keinen guten Faden daran. Redete von Expressionismus und Krampf. Sie war ein junges, unerfahrenes Ding, Feuchtwanger war eine Autorität. Sie hörte auf ihn. Die erste Arbeit, die er gelten ließ, war eine Geschichte mit dem Titel »Meine Zwillingsschwester Olga«. Die stand dann sogar in einer Zeitschrift.
Es war eine der wichtigsten Begegnungen ihres Lebens. »Beim Lion«, schrieb die Fleißer 1969, »lernte ich aufregende Leute kennen.« Der aufregendste von allen war Brecht. Feuchtwanger schwärmte von ihm, und es sollte nicht lange dauern, bis auch sie ihm klopfenden Herzens gegenüberstand. Sie hatte ein Stück verfasst, das sie »Die Fußwaschung« nannte und das später »Fegefeuer in Ingolstadt« heißen würde. Brecht empfahl es dem Intendanten der Jungen Bühne in Berlin, und der brachte es, in der Regie von Paul Bildt, 1926 tatsächlich zur Uraufführung. Sie hatte Glück: das Drama gefiel. Alfred Kerr und Herbert Ihering, sonst Antipoden und selten einer Meinung, priesen einmütig ihre Begabung. Kerr schrieb: »Falls die Fleißerin existiert, ist sie wirklich eine Hoffnung.«
Da war sie dem Brecht schon rettungslos verfallen. Sie liebte ihn. Sie tat alles, um in seiner Nähe zu sein. Schmiss das Studium hin, folgte ihm nach Berlin, war nur noch für ihn da. Verfasste schließlich auch das Stück, zu dem er sie drängte; »Pioniere in Ingolstadt«, eine Szenenfolge über Dienstmädchen und Soldaten, Kleinbürgermief und Sex, Heuchelei, Unterdrückung und Brutalität, lauter Momentaufnahmen aus dem Leben kleiner, geschundener und schindender Leute. Brecht fand die Sache zu harmlos, zu lau, aber er sorgte dafür, dass der Dresdner Uraufführung eine Inszenierung am Schiffbauerdamm in Berlin folgte. Zwar war er nicht der Regisseur, aber er hielt im Hintergrund die Fäden in der Hand. Und war gleich in seinem Element. Er zitierte die Fleißer ins Theater und traktierte sie mit Änderungswünschen. Er verlangte mehr Schärfe, pfundweise Pfeffer. Wo er Möglichkeiten der Zuspitzung sah, ließ er nicht locker. Die Fleißer, überfordert von alledem, war dem Zusammenbruch nahe. Sie kannte sich in der Welt, die sie beschrieb, wunderbar aus, sie hatte eine kräftige Handschrift und einen genauen Blick für ihre Figuren, aber sie war kein politischer Kopf. Brecht, entschlossen, eine Schlacht zu schlagen, machte dieses Manko wett. Und provozierte damit einen Riesenskandal.
Am Abend der Premiere, Ostersonnabend 1929, stand Marieluise Fleißer auf der Bühne und begriff kaum, was ihr geschah. Im Parkett und auf den Rängen tobte das Publikum. Pfiffe, Pfui-Rufe, giftiger, lautstarker Protest, das ganze Theater in hellem Aufruhr. Wann hatte es so viel Unsittlichkeit im hehren Tempel der Kunst schon gegeben? Eine Liebesszene auf dem Friedhof, Sex, Ruchlosigkeit und Gewalt. Und dann noch, als Krönung, die wackelnde Kiste, in der ein junges Mädchen entjungfert wird. »Glauben Sie«, fragte Berlins Polizeivizepräsident, »daß wir so etwas dulden? Das verbiete ich wieder!« Der Stadtrat von Ingolstadt sprach aufgebracht von einem »gemeinen Machwerk« und einem »Schandstück«. Marieluise Fleißer, zu Tode erschrocken, versuchte sich zu wehren, so gut es ging. Sie schrieb eine ironische Entgegnung, aber ihre Stimme ging im wüsten Geschrei verloren.
Dieser Abend hat ihre Existenz merklich erschüttert. Brecht triumphierte, weil seine Hartnäckigkeit zum Erfolg geführt hatte. Sie aber fühlte sich ausgenutzt und missbraucht. Heinrich Fleißer, der um seinen Ruf besorgte Vater, schrieb ihr aus Ingolstadt, dass er vor lauter Ekel keine Zeitung mehr lese. Er riet ihr, lieber nicht nach Hause zu kommen. »Meine Tochter Luise«: Schon in der Anrede erkannte sie seine Distanz. Sie hing in der Luft. Brecht heiratete Helene Weigel, und sie stand zerschmettert da mit ihren Wunden und seinem Zynismus. Sie beschloss, sich von ihm zu trennen.
Es lief nun alles auf Josef Haindl hinaus. Der saß in Ingolstadt, eine biedere, besitzergreifende Seele, und bombardierte sie mit treuherzigen Briefen. »Meine Luisi«, schrieb er, »wirf Deinen Kummer von Dir mein armes Herz Du hast mich und wenn wir Tausend Jahr alt werden Du warst und bist mir zu viel in meinem Leben ich bin allein schon froh weil ich wieder einen Brief erhalten hab, da höre ich mein armes Punnylein das sich sorgt und härmt und braucht sich nicht sorgen um seinen Bepp.« Die Tragödie nahm ihren Lauf. Der fiebernd liebende Bepp kam nach Berlin, verlor die Nerven und zog ein Messer. Sein »Punnylein« wollte nicht in den Tabakladen und schickte ihn nach Hause. Sie verliebte sich von neuem, diesmal in den Schriftsteller Hellmut Draws-Tychsen, einen »rechten Knallkopf«, wie Carl-Ludwig Reichert sagt, kraftstrotzend und völkisch gesinnt, der in die Rolle des edlen Retters und Beschützers schlüpfte und sie dann bloß noch ausnutzte. Am Ende gab's 1935 doch eine Hochzeit mit Josef Haindl. Der stopfte sie in seinen Laden und sorgte dafür, dass sie da nicht mehr rauskam.
Die Korrespondenz schlief fast ein. Zwischen 1935 und 1945 bringt der Band nur wenige Briefe. Marieluise Fleißer, 1943 zur Arbeit in einer Rüstungsfabrik gezwungen, verstummte und erwachte erst Anfang 1946 aus ihrer langen Ohnmacht. Die alten Freunde meldeten sich wieder: Wolfgang Weyrauch, Richard Friedenthal, Herbert Ihering. An Hans-Joachim Weitz, Dramaturg in Darmstadt, schrieb sie im Mai 1946: »Ich habe die unbedingte Hoffnung, dass es mir gerechterweise gelingen muss, die Isolierung, in welche ich vor dreizehn Jahren durch die politische Entwicklung hineingezwungen worden bin, über kurz oder lang wieder zu durchbrechen.« Dann, 1950, auch ein Lebenszeichen von Brecht. Anfang 1952 war man schon wieder im Gespräch über neue Projekte. Brecht schickte eine wahre Geschichte und wollte wissen, ob sie daraus nicht ein Stück machen könne. Zuletzt die Frage: »Wie geht es Ihnen?« Ja, wie ging es ihr? Sie lebte noch immer mit diesem »recht primitiven Menschen«, die Zustände waren inzwischen unhaltbar geworden, die Zwänge erdrückend. Sie bat Brecht und Feuchtwanger um Hilfe. Sie wollte schreiben und brauchte eine Rente. Eduard Claudius lud sie zum IV. Schriftstellerkongress ein. Brecht fragte, ob sie bereit sei, nach Berlin zu kommen und dort zu leben. »Es wäre wichtig«, fügte er hinzu, »wenn Sie wieder zum Schreiben kämen.« Sie fuhr im Januar 1956 zum Kongress und nutzte die Tage, um mit Brecht, der Weigel und Elisabeth Hauptmann zu verhandeln. Doch ihre Situation blieb, wie sie war. In die DDR wollte sie nicht, und in Ingolstadt wartete das Elend.
Als sie endlich zu sich kam, nach dem Tod des Mannes und überstandenem Herzinfarkt, waren die Freunde Brecht und Feuchtwanger nicht mehr da. Aber nun fand sie neue, Schriftsteller, Verlagsleute, dann auch die jungen Männer, die sich so vehement und nachhaltig für ihr Werk einsetzten: Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr. »Ich finde es schön«, erklärte Marieluise Fleißer drei Jahre vor ihrem Tod am 2. Februar 1974, »daß durch die Jungen plötzlich noch ein Sinn ins Leben kommt.« Sie beschäftigte sich noch einmal mit ihren Stücken. Schrieb ihre Erzählung »Avantgarde«, die ja nicht nur von Brecht handelt, sondern, im zweiten (von der Kritik so gut wie unbeachteten) Teil, auch von den schlimmen Jahren in Ingolstadt. Sie berichtete über den Kriegseinsatz 1943 in einer Prosastudie, die den Titel »Eine ganz gewöhnliche Vorhölle« erhielt, und über ihre Kriegs- und Nachkriegserlebnisse in der Geschichte »Der Rauch«. Sie musste sich alles von der Seele reden, die Schmerzen, die Pein, die Ohnmacht, ihr Unglück. In die kleine Erzählung »Die im Dunkeln«, zwanzig Seiten über ihren Nervenzusammenbruch 1938, schrieb sie 1965 den Satz: »Es hat immer in mir um Hilfe geschrien... da half nur die Kunst.«
Zu einer politischen Sicht hat sie es bis zuletzt nicht gebracht. Auch wo sie über die Jahre der Naziherrschaft spricht, geht der Blick kaum über die eigenen Leiden, den eigenen Überlebenskampf hinaus. »Ich war verloren auf dieser Welt«, sagte sie, »in der Weise verloren, daß ich auch nicht für mich einstehen durfte, sondern daß mir meine Bewegungen grauenhaft vorgeschrieben waren, ich war eine Puppe...«
Marieluise Fleißer: Briefwechsel 1925-1974. 740 Seiten, gebunden, 68 DM, Broschur 32,90 DM.
Erzählungen. 336 Seiten, Broschur, 19,90 DM. Beide Titel, hg. von Günther Rühle, im Suhrkamp Verlag.
Elfi Hartenstein/Annette Hülsenbeck: Marieluise Feißer. Leben im Spagat. Eine biografische und literarische Collage. edition ebersbach. 165 Seiten, gebunden, 79,80 DM.
Carl-Ludwig Reichert. Marieluise Fleißer. Deutscher Tasche...

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