Der Sturz des roten Napoleon
Große Fälschungen der Geschichte (2) - der Tuchatschewski-Prozess
Die Enthauptung
Ein einmaliger Vorgang in der modernen Militärgeschichte: »Enthauptung« einer ganzen Arme. Als erste erschossen wurden am 11. Juni 1937 im Hof der Ljubljanka, dem Sitz des NKWD, Marschall Michail Tuchatschewski (s. Foto: AKG) und sieben Generale der Roten Armee. Der Politchef der Roten Armee, General Jan Gamarnik, hatte sich schon während der Verhaftung das Leben genommen.
Es gibt nach wie vor verschiedene Versionen darüber, was Stalin dazu veranlasst hatte. Die Anklage basierte auf der Behauptung, die Offiziere hätten unter Mitwirkung des deutschen Generalstabes einen Militärputsch vorbereitet sowie eine antisowjetische und antikommunistische Politik verfolgt, die auch eine Zusammenarbeit mit dem faschistischen Deutschland einschloss. Vorgesehen seien ebenfalls Gebietsabtretungen an Deutschland gewesen. Diese Anschuldigungen fußten auf Aussagen, die der NKWD vom Chef des Leningrader Militärbezirks und vom sowjetischen Militärattaché in London erpresst hatte. Sie waren Mitte 1936 verhaftet worden.
Dass Tuchatschewski ins Visier Stalins geriet, dürfte anderen Umständen geschuldet sein. Stalin war offenbar bereits im Laufe des Jahres 1936 zur Überzeugung gekommen, dass Tuchatschewski und andere hohe Repräsentanten der Roten Armee seinen politischen Kurs nicht kritiklos hinzunehmen bereit waren. Darum mussten sie »ausgeschaltet« werden. Vermutlich spielten auch Meinungsverschiedenheiten in der Militär- und Sicherheitspolitik der UdSSR eine Rolle. Während die politische Führung (Stalin, Molotow, Woroschilow) auf gute Beziehungen zu Deutschland orientierte, setzte die Militärführung (Tuchatschewski, Jakir, Uborewitsch u. a.) auf England und Frankreich. Zudem dürfte es Stalin nicht entgangen sein, dass Tuchatschewski in der Armee und unter Intellektuellen sehr beliebt war. Man nannte ihn »roter Napoleon«.
1893 in einer russischen Adelsfamilie geboren, trat er in die zaristische Armee ein und kämpfte im Ersten Weltkrieg als Leutnant an der Front. Im Februar 1915 gefangen genommen, verbrachte er längere Zeit in deutschen Gefangenenlagern, in denen sich auch französische Offiziere befanden. Darunter der spätere französische Staatspräsident General Charles de Gaulle, der Tuchatschewski in Französisch unterrichtet haben soll und der im russisch-polnischen Krieg von 1921 auf polnischer Seite gegen Tuchatschewski kämpfte. Von französischen Gefangenen unterstützt, floh Tuchatschewski 1917 über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien in das revolutionäre Petrograd, wo er sich der im Aufbau befindlichen Roten Armee anschloss. Hier machte er eine steile Karriere und wurde bald Kommandierender der Westfront im Krieg gegen Polen (1921), der mit einer Niederlage der Roten Armee endete. In dieser Zeit kam es zu einer ersten Auseinandersetzung mit Stalin, der als Kommissar der Südfront eine Verstärkung der Truppen zu Gunsten der Westfront verhinderte und deshalb von Tuchatschewski für die Niederlage im russisch-polnischen Krieg verantwortlich gemacht wurde. Das besondere Vertrauen der Parteiführung erwarb Tuchatschewski dadurch, dass er die Truppen befehligte, die den Matrosenaufstand von Kronstadt (1921) niederschlugen.
Tuchatschewski nahm an der Generalstabsausbildung teil, die die deutsche Reichswehr im Rahmen der militärischen Zusammenarbeit mit Sowjetrussland in den Jahren 1924 bis 1933 durchführte. 1935 wurde er zum Marschall ernannt (als jüngster), ein Jahr später übernahm er das Amt des Ersten Stellvertreters des Volkskommissars für Verteidigung und betrieb die Modernisierung der Streitkräfte (Panzer, Luftlandetruppen). Dies brachte ihn in einen Gegensatz zu seinem Chef Woroschilow und anderen Haudegen des Bürgerkrieges, die nach wie vor auf die Kavallerie setzten.
Tuchatschewski war eine sehr vielseitige Persönlichkeit, außerordentlich gebildet, mit ausgeprägten Interessen für Musik, Literatur und Theater. Er sprach fließend Französisch und Deutsch, war sehr kontaktfreudig, liebte die Geselligkeit, hatte aber auch andere Vorlieben, so zum Beispiel für das weibliche Geschlecht, was gerade von der älteren Bürgerkriegsgeneration nicht gerne gesehen wurde.
So bot Tuchatschewskis Biografie tatsächlich seinen Gegnern nicht wenige Ansatzpunkte für seine Ausschaltung. Das dazu erforderliche Drehbuch lieferte der NKWD, und es ist undenkbar, dass dies ohne direkte Weisung Stalins geschah. Allem Anschein nach begann die groß angelegte Operation gegen Tuchatschewski im Herbst 1936. Im Januar/Februar des Jahres erfüllte er noch wichtige sicherheitspolitische Aufträge im westlichen Ausland, erörterte dort eine militärische Zusammenarbeit gegen Hitlerdeutschland.
Eine wichtige Figur im Komplott des NKWD gegen Tuchatschewski war General Nikolai Skoblin, der nach dem russischen Bürgerkrieg nach Paris emigrierte ehemalige Kommandeur der Kornilow-Division. In Paris gehörte Skoblin zur Leitung des Russischen Allgemeinen Frontkämpferbundes (ROVS), der Organisation ehemaliger Angehöriger der zaristischen Armee. Skoblin war ein Doppelagent. Über seine Frau, eine bekannte russische Sängerin, die schon im Bürgerkrieg für rote Geheimdienste gearbeitet hatte, wurde Skoblin vom NKWD angeworben. Zugleich war er für Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst (SD) tätig. Im Spätherbst 1936 traf sich Michail Spiegelglas, der stellvertretende Leiter der Auslandsabteilung des NKWD, in Paris mit Skoblin und informiert diesen über eine angebliche Verschwörergruppe innerhalb der Roten Armee. Diese Informationen sollte Skoblin an den SD weiterleiten, was Skoblin auch tat.
Die Fälscherwerkstatt
Heydrich handelte unverzüglich, erkannte die einmalige Gelegenheit, mit Hilfe einer eigenen geheimdienstlichen Operation die Kampfkraft der Roten Armee entscheidend zu schwächen. Er veranlasste, höchstwahrscheinlich mit aktiver Beteiligung von Heinrich Müller, dem Chef der Gestapo, die Abfassung von Dokumenten, die Tuchatschewski und andere Sowjetgenerale schwer belasteten. Unvorstellbar auch hier, dass Hitler nicht unterrichtet gewesen sei. Heydrichs Agenten fertigten 32 Dokumente an, eine fingierte Korrespondenz Tuchatschewskis und anderer Sowjetgenerale mit deutschen Generalstabsoffizieren. Über einen tschechischen Gewährsmann ließ der SD die gefälschten Papiere dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Eduard Bene zuspielen, der diese am 7. Mai 1937 dem sowjetischen Gesandten übergab. Von da an überschlugen sich die Ereignisse, nahm die Tragödie ihren Lauf ...
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