Das Leben bleibt eine Baustelle

ANDREAS GLÄSER schwört der Arbeitswelt ab

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Andreas Gläser ist keiner von fünf Millionen. Aus der Erwerbslosenstatistik hat der gelernte Tiefbauer sich selbst befreit. Statt dabei auf die Vermittlung der Arbeitsagentur zu setzen, hat er sich eine Literaturagentur gesucht: Selbstständigkeit statt »Vierzig-Stunden-Leibeigenschaft«. Als Schriftsteller feilt der Fan des Berliner Fußballclubs Dynamo nach seinem »Abstieg in der Berufswelt« nun an seinem »Aufstieg in der Unterhaltungsindustrie«. Auf eigene Faust - der Literaturagentin hat Gläser gekündigt. Sein Taschenbuch »Der BFC war schuld am Mauerbau« erzielte auch ohne deren Zutun einen Achtungserfolg. Der Nachfolger »DJ Baufresse«, wieder eine Sammlung von Geschichten, erscheint nun sogar im festen Einband. Einmal mehr erweist sich Gläser, der seine »Schreibanfälle« anfangs in subkulturellen Fanzines und auf Lesebühnen am Publikum ausgelassen hat, als Erzähl-Anarchist mit Kodderschnauze. Sein eigenes Leben - als DDR-Kind, Fußballfan, Gelegenheitsarbeiter, Szenegänger und Vater - liefert ihm den Stoff für seine Anekdoten. Was andere am Stammtisch zur Belustigung der Mittrinkenden aufpeppen, gießt Gläser gekonnt auf Papier. Der Ton der Straße, der Baustellen, Stadien und Kneipen bleibt lebendig. Kein anderer Gegenwartsautor kann das proletarische Berliner Idiom so echt in Buchstaben verkleiden wie Gläser: »Stift, wofür biste Stift? Bier holn!« Geschichten von seinen Lehrjahren auf den Baustellen des Sozialismus und von Nachwende-Erlebnissen als Maurer, Lüftungsmonteur, Anstreicher, Fassadenmaler, oder Gerüstbauer auf Zeit sind Gläsers Markenzeichen. Leute, die Bücher lesen, lernen dieses Milieu kaum jemals so unverfälscht kennen. Andersherum beschränkt sich die Lektüre der meisten Bauarbeiter auf die Bild-Zeitung, Hürriyet oder den Kicker. Als Vermittler zwischen den beiden Welten steht Gläser allein auf weiter Flur. Marketing-Abteilungen sind dankbar für Charakteristisches. Andreas Gläser profitiert von seiner proletarischen Herkunft so wie Wladmir Kaminer von seiner russischen. Darauf beschränken lässt er sich nicht. Neben Geschichten aus der Arbeits- und Arbeitslosenwelt lernt der Gläser-Leser auch ganz andere Sphären kennen. Das Leben bleibt eine Baustelle, auch wenn es sich nicht mehr auf Baustellen abspielt. Einen Kurztrip durch den Gläserschen Alltag bietet die vierteilige Titelgeschichte. Zugezogene »Viagra-Viecher« stören da die Nachtruhe, der kleine Sohn Emil sorgt für einen amüsant-turbulenten Vormittag, 500 Euro werden waghalsig auf Fußballspiele verwettet und dem Amtsgericht Potsdam ein Kurzbesuch abgestattet, weil dort die Aussage eines BFC-Kumpans gegen die dreier Polizisten aufgewogen werden soll. Wenn es endlich dunkel wird, taucht Gläser in die Nacht: Als DJ Baufresse schraubt der Ex-Prolet den Berlin-Mitte-Kunstpatienten mit schrägen Songs die Ohren auf. Auch eine Art der Selbstheilung: »Der Stachel der verordneten Produktivität sitzt tief, ich werde ihn...

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