Abgeschoben ins Vergessen
Erstes Neubauerndorf Deutschlands wird 60 Jahre alt: Denkmalschutz und Ortsname gestrichen
Nach Neuheide wollen Sie? Die Wegbeschreibung an der Tankstelle klingt kompliziert. Zum Glück bietet sich ein Kraftfahrer als Lotse an. Auf einem Parkplatz setzt er den Fremden aus. »Fahren Sie bis zur Bundesstraße, dann links und dann sehen sie Neuheide schon auf der rechten Seite.« Fünf Kilometer hinter Sondershausen liegt an der Straße nach Magdeburg buchstäblich mitten auf dem Acker ein kleines Dorf. Dem Ortsschild zufolge ist es allerdings »Großfurra - Kreisstadt Sondershausen.« Die identische Bauweise der Gehöfte, die schon von außen die Bestimmung Stube, Stall, Scheune erkennen lassen, legen den Schluss nahe, dass es sich doch um Neuheide handeln könnte.
»Der 23. März, was das für ein Tag ist? Sagt mir nichts.« Mit dem Datum weiß im Ort niemand etwas anzufangen. Erst der Hinweis auf die Ortsgründung vor 60 Jahren lässt Erinnerungen aufblitzen. Ja, ja, da stehe noch ein Gedenkstein, da hinten hinter den Bäumen, erinnert sich ein betagter Neuheider und setzt seinen Weg mit schweren Einkaufstüten fort.
Verstecktes Gedenken
Versteckt hinter einer fünf Meter hohe Tujahecke ohne sichtbaren Eingang, von Sträuchern und Efeu umwuchert findet sich ein Stein mit der Inschrift: »Junkerland in Bauernhand - 20 Jahre demokratische Bodenreform 1945 - 1965.« Darunter steht: »Erste Neubauernsiedlung Deutschlands«. Also doch Neuheide. In der Festschrift zur 1100-Jahr-Feier von Großfurra 1974 findet sich der Hinweis, dass am 23. März 1946 um 12 Uhr mittags nach einem Festakt im Heidehof der erste Spatenstich für 18 Neubauernhöfe erfolgt sei. Die Bodenreform habe die gesellschaftliche Struktur des Landes von Grund auf umgewälzt, hatte Edwin Hörnle, Präsident der Zentralverwaltung für Land- und Forstwirtschaft, bei der Gründungsfeier betont. Er verwies zugleich darauf, dass durch die Bodenreform in Thüringen das Land von 8000 Großgrundbesitzern an 350 000 Bauernfamilien verteilt wurde. Grundlage bildete das am 10. September 1945 erlassene Gesetz über die Bodenreform des Landes Thüringen. Der Festschrift zufolge war Großfurra der erste Ort im Kreis Sondershausen, in dem die Bodenreform abgeschlossen wurde. Bereits am 7. Oktober erhielten die neuen Besitzern die Urkunden. Reichlich 1600 Hektar, davon rund 1000 Hektar Wald von vier enteigneten Familien wurden verteilt.
Großfurras Ortsbürgermeister Winfried Schmidt ärgert sich, dass das Gründungsjubiläum verpasst wurde. Dabei sei er selbst in Neuheide geboren. Sein Vater habe eine Neubauernstelle bewirtschaftet, berichtet Schmidt, der vor zwei Jahren mit dem Mandat der PDS zum Gemeindeoberhaupt gewählt worden war. Allerdings nimmt er die Amtsgeschäfte nur ehrenamtlich wahr, da fehle einfach die Zeit, sagt er entschuldigend. Dummerweise hat auch der Geschichtsverein das Datum verschlafen. Dabei findet sich in der Ortschronik eine Menge Material über Neuheide. Nur wann und warum der Ort diesen Namen erhalten hatte, steht nicht drin. Vermutlich war die Landschaft Schuld an der Namensgebung. Das sei Sandboden da oben, sagt Schmidt. Da ist es nicht verwunderlich, dass mancher der Neubauern Holz gegen Getreide oder Kartoffeln eintauschen musste, um das staatliche Soll für die Ablieferung erfüllen zu können und sich ausreichend Saatgut zu sichern.
Der Neuanfang erwies sich für viele als steiniger Weg. Die Chronik weist unter anderem zwei Umsiedler und fünf Landarbeiter als Neusiedler aus. Ihnen fehlten nicht nur die landwirtschaftliche Ausbildung und Erfahrung, sondern auch Vieh und Landtechnik. Beides wurde letztlich verlost. Unter anderem 272 Schafe, 45 Schweine und 63 Rinder. Das Losglück erwies sich allerdings mitunter als trügerisch. Für Hermann Fischer etwa, dem ein Los eine Kuh bescherte, die sich bei genauem Hinsehen als an Tbc erkrankt erwies.
Bereits sechs Jahre nach der Gründung von Neuheide, schlossen sich etliche der Neubauern zur ersten LPG im Kreis zusammen. Die fortschrittlichen Bauern hätten die Genossenschaft »Befreites Land« gegründet, berichtet die Chronik. Schmidt, dessen Vater zu den Gründungsmitgliedern gehörte, weiß, warum. Für viele sei das die Rettung gewesen. Schlechter Boden und mangelnde Erfahrung hätten manchen, der mit Euphorie gestartet war, ernüchtert.
Dabei waren es die Neubauern gewohnt, sich zu schinden. Sie mussten am Beginn nicht nur ihre acht Hektar Land beackern und das hohe Ablieferungssoll erfüllen, sondern auch ihre Häuser bauen. Zwar erhielten sie Unterstützung beispielsweise durch Bergleute des benachbarten Kalischachtes oder von »einigen Hundert SED-Mitgliedern«, die der Chronik zufolge Pfingsten 1946 mit Hacke und Schaufel beim Ausschachten der Baugruben halfen. Die Hauptarbeit mussten jedoch die Neubauern leisten und dabei manche Hürde überwinden. Zement holten sie zum Teil mit Traktoren aus dem über 100 Kilometer entfernten Zementwerk in Jena-Göschwitz. Lehmziegel wurden selbst geformt und in Feldscheunen getrocknet. Das Bauholz schlugen sie in den mit der Bodenreform erworbenen Wäldern und ließen es im Sägewerk des Ortes zuschneiten. Mangel an Nägeln oder Fensterglas sorgte zusätzlich für Verdruss.
Doch auch das gesellschaftliche Umfeld war ihnen nicht immer wohl gesonnen. So seien Gerüchte gestreut worden, dass die Großgrundbesitzer bald zurückkommen würden, erinnerte sich Leutnant Alexander Nosdrin in einem Brief, der sich in der Chronik findet. Mancher habe sich auch nicht gleich entscheiden können, eine Neubauernstelle zu übernehmen, berichtet der Offizier, der seinerzeit der sowjetischen Militäradministration angehört hatte.
Die Neubauerngehöfte mit einer Grundfläche von 8,5 mal 20 Metern haben renommierte Väter. Sie entstanden auf Reisbrettern der damaligen Staatlichen Hochschule für Baukunst und bildende Künste Weimar unter Mitwirkung ihres seinerzeitigen Direktors, Prof. Hermann Henselmann, der später Chefarchitekt von Berlin wurde. Eine Arbeitsgemeinschaft für ländliches Bauen und Siedlungswesen entwickelte in Weimar Typenbauten für Kleingehöfte samt der Be- und Entwässerung und lieferte zugleich Hinweise zur Lehmbauweise. Folgerichtig landete Neuheide als »Denkmal zur Kultur der werktätigen Klassen und Schichten des Volkes« auf Platz eins der Zentralen Denkmalliste der DDR.
Den Status hat das Dorf inzwischen wieder verloren. Seine heutigen Bewohner sind froh, nicht mehr in Denkmalen zu leben. Das sei ein furchtbarer Kampf gewesen, als sie vor zehn Jahren eines der Gehöfte bezogen hatten, berichtet Juliane Seidel. Unterstützung hätten sie keine erhalten, dafür sei der Denkmalschutz immer aufgekreuzt, wenn sie mit einer Arbeit fertig waren. Da hätten die Dachziegel nicht die richtige Farbe gehabt, da der Metallzaun nicht in das Ensemble gepasst.
Dorf ohne Landwirte
Ein Gang durch den Ort lässt ahnen, was die Bewohner noch vor sich haben. Nicht nur am Fachwerk und den Bretterverkleidungen der Giebel hat der Zahn der Zeit genagt. Der bröckelnde Kalkputz gibt macherorts den Blick auf das Innenleben der aus Lehmziegeln bestehenden Mauern frei, die meist statt mit Kalk- oder Zementmörtel nur mit Lehm gemauert worden waren. Die winzigen, noch mit Stegen versehenen Fenster seien ein Graus für jede Hausfrau, bekennt Juliane Seidel. Das könne nun geändert werden. Das Innere sei ohnehin längst umgebaut, da niemand mehr einen Stall oder die Scheune brauche. Landwirtschaft betreibt niemand mehr. Hinter dem Dorf verrotten Ackergeräte, die vor 60 Jahren ebenso begehrt wie knapp waren.
Die Gemeindegebietsreform nach der Neugründung des Landes Thüringen kostete Neuheide zu allem Überfluss auch noch den Namen. Als Ortsteil von Großfurra wurde es zu einem Außenposten der Stadt Sondershausen. Ein Ortsschild mit dem alten Namen sei an den Vorschriften gescheitert, sagt Schmidt. Das scheint allerdings ein vorgeschobenes Argument der Verwaltung zu sein. Schließlich finden sich auch in Thüringen eingemeindete Ansiedlungen von weniger als fünf Häusern, deren angestammter Name auf einem grünen Ortsschild erhalten ist. Im Falle von Neuheide liegt der Verdacht nahe, dass mit dem Namen ein Stück ungeliebte DDR-Geschichte ...
»Der 23. März, was das für ein Tag ist? Sagt mir nichts.« Mit dem Datum weiß im Ort niemand etwas anzufangen. Erst der Hinweis auf die Ortsgründung vor 60 Jahren lässt Erinnerungen aufblitzen. Ja, ja, da stehe noch ein Gedenkstein, da hinten hinter den Bäumen, erinnert sich ein betagter Neuheider und setzt seinen Weg mit schweren Einkaufstüten fort.
Verstecktes Gedenken
Versteckt hinter einer fünf Meter hohe Tujahecke ohne sichtbaren Eingang, von Sträuchern und Efeu umwuchert findet sich ein Stein mit der Inschrift: »Junkerland in Bauernhand - 20 Jahre demokratische Bodenreform 1945 - 1965.« Darunter steht: »Erste Neubauernsiedlung Deutschlands«. Also doch Neuheide. In der Festschrift zur 1100-Jahr-Feier von Großfurra 1974 findet sich der Hinweis, dass am 23. März 1946 um 12 Uhr mittags nach einem Festakt im Heidehof der erste Spatenstich für 18 Neubauernhöfe erfolgt sei. Die Bodenreform habe die gesellschaftliche Struktur des Landes von Grund auf umgewälzt, hatte Edwin Hörnle, Präsident der Zentralverwaltung für Land- und Forstwirtschaft, bei der Gründungsfeier betont. Er verwies zugleich darauf, dass durch die Bodenreform in Thüringen das Land von 8000 Großgrundbesitzern an 350 000 Bauernfamilien verteilt wurde. Grundlage bildete das am 10. September 1945 erlassene Gesetz über die Bodenreform des Landes Thüringen. Der Festschrift zufolge war Großfurra der erste Ort im Kreis Sondershausen, in dem die Bodenreform abgeschlossen wurde. Bereits am 7. Oktober erhielten die neuen Besitzern die Urkunden. Reichlich 1600 Hektar, davon rund 1000 Hektar Wald von vier enteigneten Familien wurden verteilt.
Großfurras Ortsbürgermeister Winfried Schmidt ärgert sich, dass das Gründungsjubiläum verpasst wurde. Dabei sei er selbst in Neuheide geboren. Sein Vater habe eine Neubauernstelle bewirtschaftet, berichtet Schmidt, der vor zwei Jahren mit dem Mandat der PDS zum Gemeindeoberhaupt gewählt worden war. Allerdings nimmt er die Amtsgeschäfte nur ehrenamtlich wahr, da fehle einfach die Zeit, sagt er entschuldigend. Dummerweise hat auch der Geschichtsverein das Datum verschlafen. Dabei findet sich in der Ortschronik eine Menge Material über Neuheide. Nur wann und warum der Ort diesen Namen erhalten hatte, steht nicht drin. Vermutlich war die Landschaft Schuld an der Namensgebung. Das sei Sandboden da oben, sagt Schmidt. Da ist es nicht verwunderlich, dass mancher der Neubauern Holz gegen Getreide oder Kartoffeln eintauschen musste, um das staatliche Soll für die Ablieferung erfüllen zu können und sich ausreichend Saatgut zu sichern.
Der Neuanfang erwies sich für viele als steiniger Weg. Die Chronik weist unter anderem zwei Umsiedler und fünf Landarbeiter als Neusiedler aus. Ihnen fehlten nicht nur die landwirtschaftliche Ausbildung und Erfahrung, sondern auch Vieh und Landtechnik. Beides wurde letztlich verlost. Unter anderem 272 Schafe, 45 Schweine und 63 Rinder. Das Losglück erwies sich allerdings mitunter als trügerisch. Für Hermann Fischer etwa, dem ein Los eine Kuh bescherte, die sich bei genauem Hinsehen als an Tbc erkrankt erwies.
Bereits sechs Jahre nach der Gründung von Neuheide, schlossen sich etliche der Neubauern zur ersten LPG im Kreis zusammen. Die fortschrittlichen Bauern hätten die Genossenschaft »Befreites Land« gegründet, berichtet die Chronik. Schmidt, dessen Vater zu den Gründungsmitgliedern gehörte, weiß, warum. Für viele sei das die Rettung gewesen. Schlechter Boden und mangelnde Erfahrung hätten manchen, der mit Euphorie gestartet war, ernüchtert.
Dabei waren es die Neubauern gewohnt, sich zu schinden. Sie mussten am Beginn nicht nur ihre acht Hektar Land beackern und das hohe Ablieferungssoll erfüllen, sondern auch ihre Häuser bauen. Zwar erhielten sie Unterstützung beispielsweise durch Bergleute des benachbarten Kalischachtes oder von »einigen Hundert SED-Mitgliedern«, die der Chronik zufolge Pfingsten 1946 mit Hacke und Schaufel beim Ausschachten der Baugruben halfen. Die Hauptarbeit mussten jedoch die Neubauern leisten und dabei manche Hürde überwinden. Zement holten sie zum Teil mit Traktoren aus dem über 100 Kilometer entfernten Zementwerk in Jena-Göschwitz. Lehmziegel wurden selbst geformt und in Feldscheunen getrocknet. Das Bauholz schlugen sie in den mit der Bodenreform erworbenen Wäldern und ließen es im Sägewerk des Ortes zuschneiten. Mangel an Nägeln oder Fensterglas sorgte zusätzlich für Verdruss.
Doch auch das gesellschaftliche Umfeld war ihnen nicht immer wohl gesonnen. So seien Gerüchte gestreut worden, dass die Großgrundbesitzer bald zurückkommen würden, erinnerte sich Leutnant Alexander Nosdrin in einem Brief, der sich in der Chronik findet. Mancher habe sich auch nicht gleich entscheiden können, eine Neubauernstelle zu übernehmen, berichtet der Offizier, der seinerzeit der sowjetischen Militäradministration angehört hatte.
Die Neubauerngehöfte mit einer Grundfläche von 8,5 mal 20 Metern haben renommierte Väter. Sie entstanden auf Reisbrettern der damaligen Staatlichen Hochschule für Baukunst und bildende Künste Weimar unter Mitwirkung ihres seinerzeitigen Direktors, Prof. Hermann Henselmann, der später Chefarchitekt von Berlin wurde. Eine Arbeitsgemeinschaft für ländliches Bauen und Siedlungswesen entwickelte in Weimar Typenbauten für Kleingehöfte samt der Be- und Entwässerung und lieferte zugleich Hinweise zur Lehmbauweise. Folgerichtig landete Neuheide als »Denkmal zur Kultur der werktätigen Klassen und Schichten des Volkes« auf Platz eins der Zentralen Denkmalliste der DDR.
Den Status hat das Dorf inzwischen wieder verloren. Seine heutigen Bewohner sind froh, nicht mehr in Denkmalen zu leben. Das sei ein furchtbarer Kampf gewesen, als sie vor zehn Jahren eines der Gehöfte bezogen hatten, berichtet Juliane Seidel. Unterstützung hätten sie keine erhalten, dafür sei der Denkmalschutz immer aufgekreuzt, wenn sie mit einer Arbeit fertig waren. Da hätten die Dachziegel nicht die richtige Farbe gehabt, da der Metallzaun nicht in das Ensemble gepasst.
Dorf ohne Landwirte
Ein Gang durch den Ort lässt ahnen, was die Bewohner noch vor sich haben. Nicht nur am Fachwerk und den Bretterverkleidungen der Giebel hat der Zahn der Zeit genagt. Der bröckelnde Kalkputz gibt macherorts den Blick auf das Innenleben der aus Lehmziegeln bestehenden Mauern frei, die meist statt mit Kalk- oder Zementmörtel nur mit Lehm gemauert worden waren. Die winzigen, noch mit Stegen versehenen Fenster seien ein Graus für jede Hausfrau, bekennt Juliane Seidel. Das könne nun geändert werden. Das Innere sei ohnehin längst umgebaut, da niemand mehr einen Stall oder die Scheune brauche. Landwirtschaft betreibt niemand mehr. Hinter dem Dorf verrotten Ackergeräte, die vor 60 Jahren ebenso begehrt wie knapp waren.
Die Gemeindegebietsreform nach der Neugründung des Landes Thüringen kostete Neuheide zu allem Überfluss auch noch den Namen. Als Ortsteil von Großfurra wurde es zu einem Außenposten der Stadt Sondershausen. Ein Ortsschild mit dem alten Namen sei an den Vorschriften gescheitert, sagt Schmidt. Das scheint allerdings ein vorgeschobenes Argument der Verwaltung zu sein. Schließlich finden sich auch in Thüringen eingemeindete Ansiedlungen von weniger als fünf Häusern, deren angestammter Name auf einem grünen Ortsschild erhalten ist. Im Falle von Neuheide liegt der Verdacht nahe, dass mit dem Namen ein Stück ungeliebte DDR-Geschichte ...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.