Böhmische Dörfer am Rande der Südsee

Vor gut 140 Jahren wanderten einige Dutzend Deutschstämmige aus Böhmen nach Neuseeland aus und gründeten dort zwei Dörfer. Erst spät erfüllte sich für einige ihrer Nachfahren der Vätertraum von gutem Boden und Wohlstand

  • Wolfgang B. Kleiner
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Kleinbauern hatten es Mitte des 19. Jahrhunderts im böhmischen Egerland nicht leicht. Der Ertrag der Felder reichte kaum, um die Familien zu ernähren. Kein Wunder, dass ein Brief aus Neuseeland für Aufsehen sorgte in der Ortschaft Staab (heute Stod), etwa 20 Kilometer südwestlich von Pilsen. Martin Krippner, ehemals Offizier der österreichischen Armee, hatte vom Gouverneur der englischen Kolonie Neuseeland die Zusage erhalten, jeder Einwanderer aus Krippners böhmischer Heimat bekomme 16 Hektar Land. In der Erwartung, dass es auf Neuseeland weder Armut noch Hunger noch Winter geben werde, nahmen 83 Männer und Frauen im Jahr 1863 Abschied von Böhmen. Der jüngste selbstständige Auswanderer war erst zwölf Jahre alt. 106 Tage sollte die Überfahrt mit dem Segelschiff dauern. Während eines heftigen Sturms wurde ein Emigrant von einem losgerissenen Balken erschlagen. Allerdings wurden während der langen Überfahrt auch sieben Kinder geboren. Die Ankunft auf ihrem neuen Land muss für die Siedler ein Schock gewesen sein: Eingeborene Maori ruderten die Fremden einige Kilometer den Puhoi-Fluss hinauf ins Landesinnere und setzten sie auf einer Lichtung ab. Statt landwirtschaftlich nutzbarer Fläche fanden sie dort nur steil abfallende Hügel vor, überwuchert von Urwald. Es gab so gut wie kein ebenes Ackerland. Und es war Winter, der auch am Rande der Südsee kalt ist. Der Verwaltung Neuseelands war die Wertlosigkeit des Puhoi-Landes wohl bewusst - daher die scheinbar großzügige Landvergabe. Doch aufgeben konnten die Siedler nicht. Denn ihren gesamten Besitz hatten sie in Böhmen verkauft, um die Überfahrt bezahlen zu können. Jetzt hatten sie kein Geld mehr. Und waren isoliert in Neuseeland, denn Puhoi lag zwar nur 50 Kilometer nördlich des prosperierenden Auckland, aber durch den Urwald führten keine Straßen. Ohnehin sprach keiner der Ankömmlinge Englisch. Die gemeinsame Vergangenheit, die Sprache, die Religion und die unlösbar scheinende Aufgabe schweißten das Grüppchen der Böhmisch-Deutschen zusammen. Denn nur gemeinsam konnten sie mit bloßen Händen und einfachem Werkzeug die Berghänge roden. Ohne Nahrungsgeschenke der Ureinwohner wären die Emigranten wohl verhungert. Denn sie mussten erst lernen, sich von unbekannten Beeren und Früchten, Wildtieren und Fisch zu ernähren. An Landwirtschaft war zunächst nicht zu denken. Aber in Auckland war der Bedarf an Bau- und Brennholz groß, und Holz gab es in Puhoi im Überfluss. Durch den Holzverkauf verdienten die Familien etwas Geld, mit dem sie nach und nach Kühe und Schafe kaufen konnten. Im Laufe von 20 Jahren härtester Arbeit gelang es den Siedlern, eine bescheidene Landwirtschaft aufzuziehen. Bessere Häuser ersetzten die anfangs errichteten Schutzhütten, nach und nach entstand ein Ortskern mit katholischer Kirche, Versammlungshalle, Schule, Hotel und Kramerladen. Von Wohlstand konnte jedoch damals keine Rede sein. Jenny Schollum hat Tränen in den Augen, wenn sie von der alten Zeit erzählt: von mehrtägigen Festen, zu denen sich die weit vom Ortskern entfernt lebenden Siedler in der Dorfhalle trafen. Von den beiden Musikkapellen, die mehrfach in der Woche mit Dudelsack und Akkordeon übten. Von der böhmischen Tracht, dem böhmischen Essen, dem böhmischen Dialekt, von der voll besetzten katholischen Kirche, vom Zusammenhalt der Puhoi-Gemeinde. Die 55-jährige Altenpflegerin hat den Ausklang der »alten Zeit« noch erlebt. Sie hatte in eine Puhoi-Familie eingeheiratet, wurde zur Traditionsbewahrerin des kleinen Ortes - und sieht heute, wie ihr das Lebenswerk zwischen den Fingern zerrinnt. Schollum ist die Leiterin der Historical Society, der Historischen Gesellschaft, die einmal im Monat tagt. Sie ist für das kleine Ortsmuseum verantwortlich und ist die Organisatorin der Kirchengemeinde. Bis vor ein paar Jahren war sie auch noch treibende Kraft im Tanzverein. Doch davon ist sie entlastet, seit Richard Walters und Jan Gordon zugezogen sind. Ein gutes Dutzend Kinder bilden heute den Nachwuchs der »Puhoi Bohemian Dancers«. Allerdings sind bis auf zwei Kinder alle jungen Tänzer nicht mehr böhmischstämmig. Auch Walters und Gordon sind es nicht. Durch starken Zuzug sind die Böhmischstämmigen zur Minderheit im Dorf geworden. Weniger als 20 Prozent der heutigen Puhoier stammt noch von den ursprünglichen Einwanderern ab. Man merkt es auch beim sonntäglichen Kirchgang in der hölzernen, 1881 geweihten St. Peter- und-Paul-Kirche. Unter den bunten Glasfenstern mit Bibelmotiven stehen die Namen der Erbauer: Schischka, Weck, Schollum, Bayer, Wenzlick, Straka, Becher, Rauner, Schedewsky. 35 Besucher finden sich zum katholischen Gottesdienst ein - etwa die Hälfte der heute noch in Puhoi lebenden Nachfahren böhmischer Einwanderer. Die meisten anderen Neuseeländer sind anglikanischen Glaubens. Pfarrer Pat Collins (72) gibt zu: »Es ist ein Kampf, die alten Dinge am Leben zu erhalten. Es fehlt der Nachwuchs dafür.« Aus alter Zeit ist das gemeinsame Frühstück nach dem Gottesdienst übrig geblieben. Jeden Sonntag bei einem anderen Gemeindemitglied. Vor hundert Jahren war es ein mühsamer Fußmarsch von den verstreuten Gehöften zur Kirche. Da blieb man länger zusammen, um sich auszutauschen. Heute bleibt man zusammen, um die gemeinsame Vergangenheit wach zu halten. Judith Williams (60) mit Vorfahren aus der böhmischen Pittner-Familie ist eine Puhoi-Heimkehrerin. Im Alter von elf Jahren erfuhr sie von der Geschichte Puhois, war fasziniert davon, wurde deshalb Deutschlehrerin. Ein Glücksfall für Puhoi, denn immer weniger Dorfbewohner verstanden die Sprache, konnten alte Unterlagen und Urkunden aus der Gründerzeit lesen. Dass der Egerländer Dialekt nach und nach in Vergessenheit geriet, ist eine natürliche Entwicklung angesichts der rein englischsprachigen Umgebung. Zudem haben die beiden von Deutschland ausgegangenen Weltkriege das Deutschtum auch im Südpazifik in Verruf gebracht, so dass man aus Furcht vor Repressalien auch mit den eigenen Kindern nicht mehr deutsch sprach. Nach einer Untersuchung von Prof. Dr. Wilfried Heller von der Universität Potsdam sprachen 2003 nur noch elf Nachkommen den Egerländer Dialekt, der älteste war 90, der jüngste 75. Williams ist die Gründerin der »Puhoi Historical Society«. »Als ich 1976 nach Puhoi kam, gab es noch Leute, die die Gründerväter kannten«, erzählt sie. »Doch nicht alle Alten hatten Interesse an der Ortsgeschichte. Wichtige Anregungen kamen von Außenstehenden. So besuchten uns Anfang der 80er Jahre 20 Mitglieder der "Egerländer Gmoi", brachten uns originale Kostüme mit, die es hier nicht mehr gab. Und sie brachten uns Tänze bei, die wir nicht mehr kannten.« Die Nachfahren des Ortsgründers Martin Krippner wohnen nahe Ohaupo, 150 Kilometer südlich von Auckland. Auch dieser Ort ist eine Martin-Krippner-Gründung mit zunächst böhmischen Siedlern. Martins Urgroßneffe Tom Krippner lebt heute noch auf dem Grundstück seines Vorfahren. Die Landwirtschaft hat er jedoch verpachtet, auch mit 74 Jahren mag er seine Auto- und Flugzeugwerkstatt nicht verlassen. Um die böhmische Tradition kümmert sich seine Ehefrau Christine Krippner (67), seit die beiden 1957 durch die böhmische Musik zueinander gefunden hatten. Seit 1984 gibt sie die »Homeland News« heraus, ein mehrmals im Jahr erscheinendes Journal, dessen einige hundert Exemplare von Böhmisch-Stämmigen in ganz Neuseeland abonniert werden. Auch Christine weiß, dass es an interessiertem Nachwuchs fehlt. Glaubt aber, dass das Wissen um die alte Zeit noch lange lebendig ist: »Die Luft ist gut, es gibt keinen Smog. Die Leute werden deshalb sehr alt hier!« Ein bisschen Kolonialgeschichte wird heute in Puhoi rückgängig gemacht. Die Rodung des Urwaldes war die erste gemeinsame Arbeit der Siedler vor fast 150 Jahren. Heute ist die Aufforstung zur Gemeinschaftsaufgabe geworden. So treffen sich Puhoi-Einwohner jeglicher Herkunft, um Bäumchen auf gemeindeeigenen Grundstücken zu pflanzen. Denn ganz Neuseeland hat seit dem radikalen Abholzen ein Erosionsproblem. Geld hat die Umwandlung des lebendigen böhmischen Dorfes Puhoi in einen Museumsort beschleunigt: Durch eine vierspurige Autobahn, die kurz vor Puhoi endet, ist das ursprünglich nur schwer erreichbare Dorf zum ersten ländlich geprägten Vorort der überquellenden Metropole Auckland geworden. Reiche Aucklander finden es inzwischen schick, auf dem Land zu wohnen. Die schroffen, landwirtschaftlich schlecht nutzbaren Hügel sind für die Städter eine Idylle. Einige Nachfahren der Einwanderer haben deshalb das Land ihrer Vorväter parzelliert und teuer an Städter verkauft. Vom Erlös konnten sie sich reichlich gutes Farmland im Flachland kaufen. So hat sich für einige Ur-Urenkel der Einwanderer der Traum ihrer Väte...

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