Die Misere

Vom Filmfestival goEast in Wiesbaden

  • Björn Seidel-Dreffke
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
Das Filmfestival goEast in Wiesbaden, das gestern zu Ende ging, das »Schaufenster mittel- und osteuropäischer Filmkunst«, zeigte dieses Jahr 150 kurze und lange Filme aus insgesamt 17 Ländern, wobei der filmkünstlerische Nachwuchs ein breites Podium bekam. Einen Höhepunkt bildete das wissenschaftliche Symposium »Mainstream made in Russia« (Leitung Claudia Dillmann und Hans-Joachim Schlegel). Um Formen und Funktionen des populären russischen Films und Hintergründe der aktuellen Entwicklung in der russischen Filmindustrie ging es in der Diskussion. Zur Zeit spielen russische Blockbuster in Russland 50 Prozent der jährlichen Kinoeinnahmen ein. In der Filmreihe, die das Symposium begleitete, zog erwartungsgemäß der erste russische Blockbuster »Wächter der Nacht« (Russland 2004, Regie: Timur Bekmambetow) besondere Aufmerksamkeit auf sich. Viel Action und Blut verweisen auf die geistige Patenschaft des amerikanischen Kinos, wobei das typisch russische Milieu Akzente setzt. Russische Gegenwart der letzten Jahre spiegelt sich auch in »Der Bruder 2« (Russland 2000; Regie: Aleksej Balabanow). Ein ehemaliger Tschetschenienkämpfer betätigt sich nun als ein Rächer der Unterdrückten in Moskau und Chicago. Er agiert in Rambo-Manier, wobei er seine Aktivitäten mit populistisch-patriotischen Sprüchen garniert. Weiterer Brennpunkt russischen Lebens ist der Kampf gegen die steigende Kriminalität, die sich oft in mafiosen Strukturen manifestiert (reflektiert in u.a. »Blinde Kuh«, Russland 2005, Regie: Aleksej Balabanow, und »Antikiller«, Russland 2002, Regie: Jegor Michalkow-Kontschalowski). Natürlich darf auch der Kampf gegen den Terror nicht fehlen, wobei man dessen Herkunft in Tschetschenien verortet (»Hundemarke«, Russland 2004, Regie: Jewgeni Lawrentjew). Die modernen Filme sind aber trotz russischem Kolorit doch eher der Versuch, westliche Klischees und Verhaltensnormen einzuführen. Sie verzichten auf die Reflexion gegenwärtiger Sozialmisere und propagieren eingleisige Lösungsstrategien für vielschichtige Probleme. Das Bedürfnis des russischen Publikums nach einheimischen Action- und Fantasyfilmen ist sicher legitim, aber es könnte sein, dass sie den bisher noch recht heterogenen russischen Kinomarkt überschwemmen. Der russische Staat versucht dieser Entwicklung seit Beginn 2006 durch ein neues Gesetz entgegenzuwirken. In Zukunft sollen nur noch vom Staat in Auftrag gegebene Filme mit dessen Mitteln finanziert werden. Da der Staat aber bisher Hauptfinanzier der meisten russischen Produktionen war, fürchten viele Filmschaffende restriktive Einschränkungen ihrer künstlerischen Möglichkeiten durch ökonomischen Druck. Einige befürchten dadurch sogar eine verschleierte Wiederbelebung der Zensur. Der Erfolg der russischen Blockbuster provoziert in jedem Fall gegenwärtig in Russland eine Diskussion über Verlust, Erhalt oder Umwertun...

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