Die kurdische Familie Kutlu kämpft

5300 Neuruppiner unterschrieben gegen eine Abschiebung, aber Landrat gewährt kein Bleiberecht

  • Christoph Schulze
  • Lesedauer: 4 Min.
Mitten in Neuruppin, eine Altbauwohnung in der Innenstadt. »Alles was ich will, ist Freiheit für meine Familie und mich«, sagt Celal Kutlu und nimmt einen Schluck aus seinem Teeglas. Vor dem 47-Jährigen sind auf dem Wohnzimmertisch die Dokumente ausgebreitet, die dem entgegen stehen. Dutzendweise Aktenhefter haben sich mittlerweile angesammelt, im Kampf der Familie um ein Bleiberecht in Neuruppin, im Kampf gegen die Abschiebung in die Türkei. Seit über neun Jahren leben die Kutlus als Asylbewerber in Neuruppin. Sie gelten als mustergültig integriert. Wenn Vater Celal durch die Straßen läuft, grüßen ihn die Menschen. Er ist in der Stadt bekannt und beliebt, seit er einige Zeit in einem Imbiss als Dönerverkäufer arbeitete und mit seiner freundlichen Art im Gedächtnis der Kunden blieb. Doch seit dem Jahr 2002 ist der Aufenthalt der sechsköpfigen Familie gefährdet. Die strikten deutschen Ausländergesetze besagen, dass die Kutlus das Land verlassen sollen. Viele deutsche Bekannte der Familie wollen das nicht hinnehmen. Mittlerweile entwickelte sich in der Stadt eine landesweit wohl einmalige Dynamik. In den Straßen sieht man Plakate gegen die Abschiebung. Seit Monaten finden Demonstrationen und Mahnwachen für die Kutlus statt, ein Jugendzentrum organisiert Solidaritätskonzerte. 5300 Neuruppiner trugen sich in einer Unterschriftenliste ein. Der Kreistag Ostprignitz-Ruppin stellte sich hinter die Kutlus, die Stadtverordnetenversammlung auch. Juristisch wäre die Abschiebung nach der Ablehnung des Asylantrages wohl einwandfrei, doch menschlich wäre sie eine Katastrophe. »Da, das kennen meine Kinder doch gar nicht«, ruft Celal Kutlu über die Aktenberge in Richtung Fernseher, in dem gerade eine Reportage über die Türkei läuft. Die vier Söhne - zwischen 14 und 23 Jahren alt - fühlen sich in Neuruppin zu Hause. Sie sprechen besser Deutsch als Türkisch. Der 15-jährige Mehmet hatte 1997 einen schweren Unfall und lag im Koma. Zur Rehabilitation geht er in eine spezielle Einrichtung in Lübben. Eine adäquate Behandlung wäre in der Türkei kaum möglich. Beim Nachdenken, was im Falle einer Abschiebung passiert, kommen Mutter Fatma die Tränen und sie schaut verunsichert auf den Boden. Die Frau ist nervenkrank und auch ihre Weiterbehandlung wäre durch eine Abschiebung in Frage gestellt. Durch den Stress wegen des seit Jahren unsicheren Aufenthaltsstatus hat sich ihr Zustand weiter verschlimmert. Auch finanziell könnte es der Familie bedeutend besser gehen. Ohne Aufenthaltsgenehmigung darf man in Deutschland nicht arbeiten und so leben die Kutlus von Sozialhilfe. Dabei hat Vater Celal gleich mehrere Jobangebote. Im Dönerimbiss könnte er jederzeit wieder anfangen und sogar der Neuruppiner Bürgermeister hält einen Job im Hotel seiner Familie für den Kurden bereit. Sohn Muhittin (20) darf keine Ausbildung anfangen und ist gezwungen, tatenlos zu Hause zu sitzen. Celal Kutlu versteht das alles nicht: »Wem schaden wir denn? Ist hier so wenig Platz, dass meine Familie weg muss?« Im Aufenthaltsgesetz gibt es einen Absatz, der es erlaubt, Ausländern aus »dringenden humanitären oder persönlichen Gründen« Aufenthalt zu gewähren. Landrat Christian Gilde (SPD) könnte diesen Paragrafen anwenden, meinen die Unterstützer der Kutlus. Doch der Landrat bestreitet das und fühlt sich »formell eingemauert« - vorgeblich, weil seine Entscheidung vom Innenministerium postwendend rückgängig gemacht würde. Da er es nicht wenigstens versucht, wird ihm von vielen Seiten vorgeworfen, starrsinnig zu sein und kein Auge für die menschliche Seite der Angelegenheit zu haben. Immerhin gibt es noch eine zweite Möglichkeit: Gerade entschied die Brandenburger Härtefallkommission, sich mit dem Fall Kutlu zu befassen. Damit ist zumindest schon einmal eins erreicht. Bevor die Kommission entscheidet, ist eine Abschiebung unwahrscheinlich. Wenn die Kommission sich dann für ein Bleiberecht aus humanitären Gründen ausspricht, hat Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) das letzte Wort. Bisher ist er allen Empfehlungen des Gremiums gefolgt. Schon 2004 waren die Kutlus Thema in der Härtefallkommission - damals fehlte eine Stimme für die nötige Zweidrittelmehrheit. Die Kutlus haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Als allerletzter Strohhalm bliebe die Innenministerkonferenz, die irgendwann im Herbst 2006 tagt. »Vielleicht bekommen wir ja noch unsere Freiheit, vielleicht gibt es Menschlichkeit«, sagt Celal Kutlu. Er klappt den Aktenordner zu. Vorerst.

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