Eine abscheuliche Geschichte

Kurt Stern protokolliert seine Tage in französischen Internierungslagern

Der Tag, an dem der Krieg beginnt, ist warm und strahlend hell. Kurt Stern schreibt ins Tagebuch: »Hitler greift Polen an.« Und bald darauf: »Es ist schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen: Wir sind im Krieg.« In der Nacht zum 5. September 1939 probt Paris zum ersten Mal Fliegeralarm. Stunden später, gleich nach dem Aufstehen, hört er im Radio, dass sich die deutschen Emigranten in Konzentrationslagern zu sammeln haben. »Was für eine abscheuliche Geschichte!«, schreibt er. »Es ist traurig und bedrückend, nicht für das gehalten zu werden, was man ist.« Er ist, 1907 geboren, Kommunist und Hitler-Gegner, hat in Berlin und an der Pariser Sorbonne studiert, ist nach Frankreich geflohen, als Deutschland in die Hände der Nazis fiel, er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco, und er ist seit 1932 mit einer Französin verheiratet. Die Vichy-Regierung macht keine Unterschiede: Weil er Deutscher ist, steckt sie ihn ins Lager, zusammen mit anderen Antifaschisten, mit Juden, Abenteurern, zwielichtigen Existenzen. Siebzehn Jahre nach seinem Tod im September 1989 tauchen die Zeilen auf, die Kurt Stern einst in einfache Schulhefte schrieb, die Tagebücher seiner Internierung, das lange Protokoll der Ungewissheiten und Ängste, des Elends und Widerstehens. Vom 1. September bis 19. Dezember 1939 und noch einmal vom 10. Mai bis 29. Juli 1940 hat er aufgeschrieben, was ihm in den Lagern widerfuhr. Er ist Anfang dreißig, als das Martyrium beginnt. Tag für Tag die Furcht, den Nazis in die Hände zu fallen, dazu primitive Unterkünfte, die schreckliche Enge, die zermürbende Hoffnungslosigkeit, die Rivalitäten der Mitgefangenen. »Deprimierend«, heißt es gleich am Beginn, »dieses Umfeld von fragwürdigen, unsympathischen, dummen, einfallslosen, servilen Leuten, denn sie sind in der Mehrheit. Deprimierend vor allem, wie Gefangene und nicht wie Freunde behandelt zu werden.« Kurt Stern hat anfangs noch Glück. Jeanne, seine Frau, kann ihn manchmal besuchen. Sie bringt die neuesten Nachrichten mit. Denn das ist vielleicht das Schlimmste in dieser ausweglosen Situation: dieser Ausschluss vom Geschehen da draußen, die wilden, geradezu irrsinnigen Gerüchte und Spekulationen, die immer wieder die Runde machen, mal Hoffnungen nähren, mal Ängste verstärken, mal panisches Entsetzen hervorrufen. Und diskutiert wird unter den politisch Interessierten immerzu: über Hitler und Stalin, den Nichtangriffspakt und den Fortgang des Krieges, wenn endlich mal eine halbwegs gesicherte Information zu haben ist. Kurt Stern stemmt sich gegen all die bitteren Momente, gegen Verzagtheit, Niedergeschlagenheit und Befürchtungen, indem er sein Heft hervorholt und das Geschehen im Lager festhält, die Appelle, die Transporte zum nächsten Ort, seine Flaubert-Lektüre, die Schreibverbote, die Debatten unter den Gefangenen. Fast jeden Tag ein Eintrag. Manchmal reichen Zeit und Kraft bloß für eine karge Notiz oder einen schnell hingeworfenen Satz, meist aber werden es ausführliche Berichte und Schilderungen, Geschichten aus der Hölle der Ohnmacht. Lion Feuchtwanger, der damals in Les Milles interniert war, nannte sein Buch, das sich mit jenen schlimmen Wochen befasste, »Unholdes Frankreich« (später wurde »Der Teufel in Frankreich« daraus). Er war der Erste, der das Unfassbare in einer großen, heute schon klassischen Erinnerung dokumentiert hat. Andere folgten. Rudolf Leonhard schrieb die Gedichtsammlung »Le Vernet« und daneben ein Tagebuch, in das er morgens die Träume der Nacht notierte. Es blieb lange so unbekannt, begraben unter anderen Archiv-Materialien wie die Hefte von Kurt Stern, die in einem einfachen Pappkoffer lagen. Sie kamen erst zum Vorschein, als Jeanne Stern Ende 1998 gestorben war. Leonhards Traumtagebuch, von Steffen Mensching zufällig entdeckt, erschien 2001 im Aufbau-Verlag. Jetzt, fünf Jahre danach, folgen, herausgegeben und kommentiert von Christian Löser, die Aufzeichnungen Kurt Sterns, aus dem Französischen übersetzt von Lucienne Steinitz und in einem einfühlsamen Vorwort vorgestellt von Christa Wolf. Als Zutat gibt's hinten noch unveröffentlichte Briefe an Jeanne und Kurt Stern, darunter liebevolle und besorgte Schreiben von Anna Seghers und Gustav Regler, die zuletzt um eine einzige Frage kreisen: Wie kann man den bedrohten Freunden helfen, sich aus Europa zu retten? Im Juli 1941 kam Kurt Stern endlich frei. Es dauerte noch fast ein Jahr, bis im letzten Augenblick, im Juni 1942, auf einem Schiff die Flucht nach Mexiko gelang. Ein Glück, dass aus diesen Papieren doch noch ein Buch wurde. Es bringt uns, das sei nicht übersehen, einen Mann zurück, den viele, Jüngere zumal, schon gar nicht mehr kennen. Unter den Schriftstellern, die in der DDR lebten, war Kurt Stern eine der nobelsten Erscheinungen, gebildet, leise, zurückhaltend, bescheiden. Er hat, kaum aus dem Exil zurückgekehrt, gemeinsam mit Jeanne viel fürs kulturelle und literarische Leben in der DDR getan. Beide, unzertrennlich, schrieben die Vorlagen für die frühen DEFA-Filme »Das verurteilte Dorf« und »Stärker als die Nacht«. Später beeindruckten sie vor allem mit Reportagebüchern über Vietnam und Paris. Nach der Biermann-Ausbürgerung dann der Eklat: Kurt Stern schloss sich, wieder mit seiner Frau, den protestierenden Kollegen an. Er war der nachdenkliche und integre Mann geblieben, der Grandseigneur, der nicht daran dachte, die eigene Meinung einem Parteibeschluss zu opfern. Schon in den Tagebüchern seiner Internierung hat er das Erschrecken geschildert, als ein Leidensgefährte im Gespräch über Hermann Duncker meinte, der habe zu oft gezweifelt und geschwankt. Er wusste ziemlich gut, wie schnell man in seinen Reihen zum »Abweichler« wurde. Der Gedanke hat ihn, wie man seinen Aufzeichnungen entnehmen...

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