- Politik
- Der Dekabristenaufstand 1825
Nur eine Palastrevolte?
Auch der nachfolgende Aufstandsversuch einiger Regimenter in der Ukraine im Januar 1826 schlug fehl. Der Kommandeur des Tschernigöwer Infanterieregiments, Sergej Murawjew Apostol, der nach der Niederschlagung des Dekabristenaufstandes zu Weihnachten 1825 in St. Petersburg inhaftiert worden war, ist am 10. Januar 1826 von gleich gesinnten Offizieren befreit wor den. Er zog mit seiner Einheit in Richtung Norden. Da jedoch die dort erwartete Unterstützung ausblieb, wurden die Aufständischen auf offener Steppe, 80 Kilometer südwestlich von Kiew, durch Regierungstruppen schon am 15. Januar d. J. aufgerieben. Wie kam es zur Erhebung? Nachdem Alexander I. am 1. Dezember 1825 gestorben war, wurde sein jüngerer Bruder Nikolaus zum Nachfolger bestimmt, der indes bei der Petersburger Garnison unbeliebt war. Einige Gardeoffiziere verweigerten denn auch am 26. Dezember 1825 die «Neuvereidigung» und führten demonstrativ ihre Mannschaften auf den Senatsplatz. Der Generalgouver neur der Hauptstadt, der die 3000 Meuterer zum Auseinandergehen aufforderte, wurde von Oberleutnant Peter Kachowski erschossen. Bürger schlugen sich auf die Seite der Aufständischen, bewarfen die zarentreue Gardekavallerie mit Holzscheiten. Als dann 12 000 Mann der zarentreuen Truppen mit 36 Geschützen die Rebellen umzingelten und mit Kartätschen-Feuer belegten, gelang es, die Er hebung zu zerschlagen.
579 Dekabristen, wie die Aufständischen genannt wurden (vom russischen «Dekabr», Dezember), unter ihnen zwei Generäle, 23 Oberste sowie zwölf Fürsten, Grafen und Barone, wurde der Prozess gemacht. Fünf Aufständische erhielten die Todesstrafe: Oberst Pestel, die Gardeoffiziere Kachowski und Bestuschew-Rjumin, die Dichter Rylejew und Murawjew- Apostol. 121 wurden zu lebenslänglicher Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt.
Handelte es sich im Dezember/Januar vor 175 Jahren um eine der üblichen Palastrevolutionen, sollte nur ein Autokrat durch einen anderen ausgewechselt wer den? Wohl kaum. Die Dekabristen waren von ganz anderem politischen und menschlichen Format, als jene, die Hofintrigen durch Putsche austrugen. Sie waren junge, im Geiste der Aufklärung erzogene Adlige, die durch die Begegnungen mit den revolutionären Umwälzungen Europas und ihre begeisterte Teilnahme an den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Fremdherrschaft die tiefe Kluft zu den rückständigen und elenden Zuständen Russlands erkannten und nach grundlegender Erneuerung ihres Vater landes drängten. Alexander I. hatte zwar während der französischen Invasion eine Bauernbefreiung versprochen, aber billigte sie nur den estnischen und lettischen Leibeigenen zu. Auch die Hoffnung, dass der Selbstherrscher seine Macht durch eine Verfassung beschränken lassen werde, war bald verflogen. Deshalb entstanden nach dem Beispiel italienischer Carbonari und griechischer Häteristen konspirative Gesellschaften, so ein Rettungsbund, später Wohlfahrtsbund, nach dessen Auflösung sich zwei wichtige Organisationen herausbildeten. Für die Nordgesellschaft in St. Petersburg erarbeitete General Nikita Murawjew einen Verfassungsentwurf, der eine konstitutionelle Monarchie vorsah. Ein weitaus radikaleres Programm legte Oberst Pawel Pestel, Teilnehmer der Schlachten bei Borodino und Leipzig, vor. Der Führer der Südgesellschaft im ukrainischen Tultschino orientierte sich am französischen Gesellschaftsmodell wie auch an russischen Traditionen. Durch eine Revolution der Armee sollte eine zentralistisch aufgebaute demokratische Republik erkämpft werden. Nur dadurch werde garantiert, dass die «Wohlfahrt des einem dem anderen keinen Schaden oder gar Verderbnis» bringt. Pesteis Organisation schloss sich die Kiewer russisch-polnische Geheimgesellschaft «Vereinigte Slawen» an, die den Gedanken der Vereinigung von Russen, Polen, Tschechen, Kroaten, Serben und auch Ungarn in einer föderativen Republik einbrachte. Dass auch die Petersburger der Forderung nach Ausstattung der befreiten Bauern mit Hof und Land folgten, war dem Dichter Kondrati Rylejew zu danken. Sein «Polarstern» wurde zum Sprachrohr der kritischen Adelsintelligenz. In seiner Wohnung fiel die Entscheidung, das zarische Interregnum für den Aufstand zu nutzen, der ursprünglich für die Zeit der Sommermanöver der 2. Ar mee 1826 geplant war.
Der Dekabristenaufstand war ein erster Revolutionsversuch gegen die Autokratie. In Russlands sollte die bürgerliche Emanzipation vorangebracht werden. Auch wenn der Aufstand scheiterte, so gab er doch weitreichende Impulse. «Die Geschütze auf dem Isaak-Platz», so Alexander Herzen, «weckten eine ganze Generation aus dem Schlaf». Und der Dekabrist Alexander Odojeweski schrieb 1827 an Puschkin: «Was wir gewagt, wird nicht vergehen, aus Funken werden Flammen schlagen.» Es war kein Zufall, dass Lenin vor 100 Jahren, für seine in Leipzig herausgegebene «Iskra» (Funke) diese prophetische Zeile verwandte.
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