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Freud inoffiziell: Was (ver)bergen die Archive?

Unveröffentlichte Dokumente werfen neues Licht auf die Geschichte der Psychoanalyse

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Martin Koch

Wir wollen s ihnen nicht zu leicht machen«, schrieb Sigmund Freud mit Blick auf seine Biographen. »Jeder soll mit seinen Ansichten über die Entwicklung des Helden< recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.« Sie haben sich geirrt, manchmal aus dem einfachen Grund, dass der Held selbst sie auf eine falsche Fährte geführt hat. Das jedenfalls meint Psychologiehistoriker Christfried Tögel vom Sigmund-Freud-Zentrum in Uchtspringe, dem es in den letzten Jahren ver gönnt war, unveröffentlichte Briefe und Notizen Freuds einzusehen.

Zwar bergen diese Dokumente, die sich größtenteils in der Handschriftenabteilung der Kongressbibliothek in Washington befinden, keine Sensationen. Dennoch werfen sie ein neues Licht auf die Frühgeschiphte der Psychoanalyse sowie auf die Selbstdarstellung Freuds, die dieser 1925 auf Bitten des Leipziger Felix-Meiner Verlages verfasst hat. Dort heißt es beispielsweise: »Noch als Student hatte ich einer öffentlichen Vorstellung des >Magnetiseurs< Hansen beigewohnt und bemerkt, daß eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene fest begründet.« Seine Briefe aus jener Zeit (1880) sprechen indes eine andere Sprache. Danach hatte Freud sich erst nach langem Zögern entschlossen, eine Vor Stellung von Karl Hansen zu besuchen, die seine Zweifel keineswegs ausräumte. Erstens kannte er ein Gutachten der Wiener Universität, das die Gefährlichkeit dieser Art von Hypnose belegte. Und zweitens war Hansen als Schwindler entlarvt worden, da seine Versuchspersonen die Muskelstarre nur simuliert hatten.

Tatsächlich taucht das Wort »Hypnose« in Freuds Werken erstmals 1886 auf- im Anschluss an einen Studienaufenthalt bei dem berühmten französischen Neurologen Jean-Martin Charcot in Paris. Neben Hypnose hatte Freud sich dort vor allem mit dem Phänomen der männlichen Hysterie beschäftigt. Das war damals keineswegs selbstverständlich, denn die traditionelle Nervenheilkunde sah in der Hysterie eine Krankheit, die von der Gebär mutter (griech.. hystera) herrühren sollte.

Am 15. Oktober 1886 referierte Freud in der Wiener »Gesellschaft der Ärzte« erstmals über seine Pariser Erfahrungen. Was dann geschah, erfahren wir erneut aus seiner Selbstdarstellung: »Allein ich fand eine üble Aufnahme. Maßgebliche Personen ... erklärten das, was ich erzählte, für unglaubwürdig.« Einige Freud-Forscher sehen in diesem Vorfall zugleich den ersten Akt des Widerstandes gegen die Psychoanalyse. Wurde Freud hier tatsächlich das Opfer einer ignoranten Mediziner käste? Tögel bestreitet das: Denn über das Phänomen der männlichen Hysterie wussten die anwesenden Professoren bestens Bescheid. Einige hatten auf diesem Gebiet sogar geforscht und waren zu Recht empört, dass Freud dies alles ignorierte. Außerdem missfiel ihnen die über hebliche Art des jungen Arztes sowie dessen Versuch, sich als Intimus von Charcot zu präsentieren. Obwohl Freud über diesen Teil der Geschichte nie ein öffentliches Wort verlor, fing er sofort nach dem Vor trag an, sich intensiv mit dem Thema Hysterie zu beschäftigen. Der Weg zur Psychoanalyse war frei.

Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Fall der 40-jährigen Emmy v. N., der in Freuds »Studien über Hysterie« (1895)

einen besonderen Stellenwert einnimmt. Diese Frau, eine reiche Witwe, die eigentlich Fanny Moser hieß, hatte zwei Töchter. »Ihre ältere Tochter«, schrieb Freud damals, »... zeigte einen ungemessenen Ehrgeiz, der im Verhältnisse zu ihrer kärglichen Begabung stand, wurde unbotmäßig und selbst gewalttätig gegen die Mutter.« Vierzig Jahre später, am 13. Juli 1935, teilte ihm diese »kärglich begabte« Tochter mit, dass sie inzwischen promoviert habe und Autorin mehrerer Bücher sei. »Ich kann es Ihnen nicht übel nehmen«, antwortete Freud, »daß Sie meinen schlimmen diagnostischen Irrtum von damals - d.h. 1889/1890 - noch nicht verziehen haben.« Und er fügte hinzu: »Aber damals verstand ich nichts.« In dieser Schärfe, meint Tögel, habe Freud sich öffentlich nie über die frühe Psychoanalyse geäußert.

Wie so viele große Wissenschaftler glaubte auch Freud, seine Schriften frei von persönlichen Schwächen halten zu müssen. Vermutlich wissen nur wenige, dass er als Student durch die Prüfung für gerichtliche Medizin gefallen war und deshalb einen Antrag auf Wiederholung stellen musste, der sich heute im Nachlass befindet. »Kein neuer Fund in den Archiven kann aber meine Überzeugung er schüttern«, erklärt Tögel, »dass Freuds provokative Fragen und Hypothesen die Wissenschaften vom Menschen mehr befruchtet haben als die irgendeines anderen Menschen im 20. Jahrhundert.« Zwar seien die kindliche Sexualität oder das Unbewusste schon vor Freud bekannt gewesen. Doch dieser habe beides in Zusammenhänge gestellt, die ebenso neu und wegweisend waren wie seine originären Beiträge zur Traumdeutung oder zu den Fehlleistungen.

Dass der Begründer der Psychoanalyse mit seinen Auffassungen häufig zwischen alle Stühle geriet, zeigt ein Brief vom 26. Mai 1939 aus Boston. Er ist ohne Unter schrift und nimmt Bezug auf das Buch »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1938), dem Einstein und Stefan Zweig höchste Anerkennung zollten. Allein der anonyme Briefeschreiber nannte Freud einen »alten Schwachkopf«, weil er in diesem Buch Moses zu einem Ägypter erklärt habe. Dann verlor er völlig die Fassung: »Schade, daß die Gangster in Deutschland Sie nicht in ein Konzentrationslager gesteckt haben, wo Sie hingehören.« Diese Zeilen dürften Freud besonders tief getroffen haben, denn er war dem Nazi-Terror nur knapp entronnen. In fast allen Biografien steht, dass er zuvor durch seine Unterschrift bezeugen sollte, von der Gestapo korrekt behandelt worden zu sein. Freud tat dies, fügte dem Text auf dem Zettel aber noch einen bitter-ironischen Satz hinzu: »Ich kann die Gestapo jedermann wärmstens empfehlen.« Bis heute rätseln die Forscher, warum der 82 jährige Gelehrte dieses tödliche Risiko einging. Im Nachlass von Freuds Anwalt Alfred Indra hat Tögel zwar den Zettel gefunden, aber darauf nicht den letzten Satz. Es heißt dort nur- »Ich bestätige gern, daß bis heute keinerlei Behelligung meiner Person oder meiner Hausgenossen vorgekommen ist. Behörden und Funktionäre der Partei sind mir und meinen Hausgenossen ständig korrekt und rücksichtsvoll entgegengetreten. Wien, den 4. Juni 1938. Prof. Dr. Sigm. Freud.« Natürlich ist nicht auszuschließen, dass Indra nur eine nachträglich angefertigte Kopie des Zettels besaß. Denn am 4. Juni 1938 verließ Freud seine Heimat und traf zwei Tage später in London ein. Dort starb er am 23. September 1939

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