Unbewusstes bestimmt das Bewusstsein

Hirnforscher prüfen die Grundaussagen der Freudschen Psychoanalyse

Angenommen, Sigmund Freud würde heute leben. Was wäre an der Psychoanalyse anders? Oder schärfer gefragt: Müsste nicht jeder Versuch, eine solche Theorie zu entwickeln, schlicht an den Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften scheitern? Nicht unbedingt, meint der Londoner Neurologe Mark Solms, denn Hirnforschung und Psychoanalyse stünden sich keineswegs mehr so ignorant gegenüber wie noch vor einigen Jahrzehnten. Durch den Einsatz neuer technischer Verfahren wie der Kernspintomographie sei es vielmehr möglich geworden, die Aktivitäten des Gehirns genau zu lokalisieren und somit die neuronalen Grundlagen dessen zu erforschen, was Freud den »psychischen Apparat« genannt hat. Dieser umfasst bekanntlich drei Instanzen: das unbewusste, triebhafte »Es«, das für bewusste Erfahrungen zuständige »Ich« sowie das »Über-Ich«, welches als eine Art inneres Gewissen über die Einhaltung der sozialen Normen wacht. Wenig bekannt ist, dass Freud selbst am Beginn seiner Karriere eine naturwissenschaftliche Psychologie schaffen und somit die Besonderheiten des psychischen Apparats neurobiologisch erklären wollte. Davon kündet namentlich seine Schrift »Entwurf einer Psychologie«, die er 1896 verfasst, aber niemals veröffentlicht hat. Warum er dies nicht tat, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Vermutlich war Freud enttäuscht über die Tatsache, dass die Hirnforscher seinerzeit nichts oder nur wenig zur Aufklärung des Psychischen beitragen konnten. Er wandte sich daher von der Neurobiologie ab und dem Studium des rein Psychischen zu. Über 100 Jahre sind seitdem vergangen, und die oft totgesagte Psychoanalyse lebt noch immer. Damit nicht genug ist aus dem Zusammenwirken von Neurobiologen und Psychoanalytikern eine neue Disziplin hervorgegangen: die so genannte Neuro-Psychoanalyse, deren Ansprüche Mark Solms wie folgt erläutert: »Freud setzte beim subjektiven Erleben des Menschen an, die moderne Hirnforschung dagegen nähert sich dem Ganzen vom objektiven Standpunkt des externen Beobachters. Neuro-Psychoanalyse besteht nun in dem Versuch, unsere innere Erste-Person-Perspektive mit der äußeren Dritte-Person-Perspektive zu verbinden.« Grundsätzlich ist gegen ein solches Vorgehen nichts einzuwenden, sofern man die Grenzen zwischen beiden Betrachtungsebenen nicht willkürlich verwischt. Genau dies tun manche Neuro-Psychoanalytiker und kommen dabei wunschgemäß zu dem Schluss, dass die Freudsche Theorie durch die moderne Hirnforschung bestätigt worden sei. Das ist jedoch mitnichten so. Zahlreiche Aussagen Freuds haben sich als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen. Beispiel: die sexuelle Symbolik in der Traumdeutung. Für Freud war der Traum der »Königsweg zum Unbewussten«. Doch um zu erklären, warum unsere Träume recht häufig von sexuellen Motiven durchdrungen sind, ist kein Rückgriff auf die Psychoanalyse nötig. An die meisten Träume erinnern wir uns am Morgen, und morgens steigt der Spiegel der Sexualhormone am stärksten an. In einem Punkt allerdings war Freud auf der richtigen Spur: Träume sind nicht das Resultat zufälliger elektrischer Impulse aus dem Stammhirn, wie lange vermutet wurde. Die Traumbilder kommen vielmehr aus dem Gedächtnis und werden im Schlaf neu geordnet. Währenddessen ist das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert, was darauf hindeutet, dass sexuelle und andere Wünsche ein wichtiger Motor für das Traumgeschehen sind. Auch Freuds Modell des psychischen Apparats, urteilt der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth, darf zumindest in drei Grundaussagen als bestätigt gelten. Erstens: »Das Unbewusste determiniert weitgehend das Bewusstsein.« Zweitens: »Das Unbewusste entsteht ontogenetisch lange vor dem Bewusstsein.« Und drittens: »Das bewusste Ich hat nur geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns.« Eine Einschränkung freilich bleibt. Was die moderne Hirnforschung das Unbewusste nennt, hat mit Freuds triebhaftem Es kaum etwas gemein. Denn in den Tiefen des Unbewussten schlummern keine dunklen Triebe. Dort befindet sich unser emotionales Erfahrungsgedächtnis, welches unentwegt unsere Wünsche und Vorstellungen beeinflusst. Wären uns diese Erfahrungen jederzeit bewusst, würde das Gehirn ins Chaos stürzen. So gesehen sind unbewusste Prozesse eine notwendige Voraussetzung für die neuronale Informationsverarbeitung. Anders als das Es lässt sich das Über-Ich im Gehirn tatsächlich lokalisieren. Und zwar im orbitofrontalen Cortex, einer Region des Stirnhirns, die unsere ethischen und moralischen Vorstellungen beherbergt. Ist diese Region geschädigt, sind die betroffenen Menschen unfähig, die positiven oder negativen Konsequenzen ihres Tuns vorauszusehen. Sie empfinden darüber hinaus weder Schuld noch Reue, da in ihrem Gehirn, so der US-Neurologe Antonio Damasio, keine moralische Instanz existiert, die ihr Verhalten sozial verträglich lenken könnte. Nach den Kernaussagen der Psychoanalyse besitzt unser Gehirn zudem die erstaunliche Fähigkeit, Erinnerungen an emotional aufwühlende Erlebnisse so zu blockieren, dass sie für unser Bewusstsein nicht mehr zugänglich sind. Sie werden »verdrängt«, wie Freud für viele Menschen überzeugend erklärt hat. Andere wiederum verwenden das Wort des berühmten Analytikers als willkommene Ausrede, um sich von einer unerfreulichen Vergangenheit zu verabschieden. Was aber sagt die Wissenschaft? In keinem Experiment mit hirnorganisch gesunden Probanden konnte die Freudsche Verdrängung bisher verifiziert werden. Verwunderlich ist das nicht. Denn traumatische Erfahrungen brennen sich normalerweise tief ins Gehirn ein. Und jeder Versuch der Betroffenen, die quälenden Gedanken aus dem Bewusstsein zu ver...

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