Alte und neue Gesichter

Das 16. Filmkunstfest Schwerin - Tradition und Erneuerung

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie viele Filmfestivals verträgt Deutschland? Auf diese Frage, die im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion während des 16. Schweriner Filmkunstfestes stand, antwortete Regisseur Andreas Dresen auf ganz pragmatische Weise. »Sehen Sie«, sagte er, »früher gab es am Marienplatz, der damals noch Leninplatz hieß, ein wunderbares Filmkunstkino. Das hat inzwischen geschlossen. Die Schweriner aber sind kulturbegeisterte Leute, und sie interessieren sich für besondere Filme, die von den übriggebliebenen Kinos nur noch selten gezeigt werden. So füllt das Schweriner Filmfest wenigstens für fünf Tage im Jahr eine empfindliche Lücke«. Tatsächlich ist das Festival in der mecklenburg-vorpommerschen Landeshauptstadt ein Publikumsmagnet. Trotz schönen Wetters ließen es sich die Schweriner nicht nehmen, die Nähe zu Filmen und ihren Machern zu suchen: Und das nicht nur zu Andreas Dresen, dem Sohn ihrer Stadt, der noch einmal sein abendfüllendes Kinodebüt »Stilles Land« (1992) präsentierte. Ausverkauft waren insbesondere die Vorstellungen des Wettbewerbes, darunter der umstrittene »Freie Wille« von Matthias Glasner, das psychologisch eindrucksvolle Porträt eines Vergewaltigers (Jürgen Vogel), der auch nach langer Therapie seinen inneren Zwängen ausgeliefert bleibt. Glasner ließ es sich nicht nehmen, am Festival teilzunehmen: Direkt vom Tribecca-Filmfest aus New York kommend, stellte er sich dem Urteil der Schweriner. Neben solchen bereits festivalerprobten Arbeiten hatte der Künstlerische Leiter Hasso Hartmann auch zu zwei Uraufführungen eingeladen: »Sonja« von Kirsi Marie Liimatainen beschreibt sensibel das Coming-out einer 16-Jährigen. »Sieh zu, dass du Land gewinnst« von Kerstin Ahlrichs umreißt Konflikte, in die eine Auszubildende in einer Ausländerbehörde gerät, als ihr Vater, ein Landwirt, unangemeldete Helfer aus dem Osten für seine Erdbeerernte anstellt. Beide Produktionen sind Absolventenarbeiten deutscher Filmhochschulen. Ihnen ein Podium zu verschaffen, gehört zu den Traditionen des Schweriner Treffens: Aktuelle, die gesellschaftlichen Konflikte des Landes reflektierende Arbeiten haben hier eine Heimstatt. Diese Qualität des Festivals wurde von der Jury mit ihrer Preisvergabe ausdrücklich gewürdigt: Den Hauptpreis erhielt gestern Abend »Schläfer« von Benjamin Heisenberg, der diese Woche auch bundesweit in den Kinos startet: eine Parabel über Vertrauen und Verrat, in der ein junger Biologe vom Verfassungsschutz angeheuert wird, Auskünfte über seinen algerischen Kollegen zu erteilen. »Schläfer« beschreibt die Ambivalenzen der Hauptfigur, Motivationen ihres Verrats, ihre innere Zerrissenheit, zu der auch die aufkommenden Zweifel und Schamgefühle gehören. Mit dem Regiepreis wurde der Schweizer Beitrag »Nachbeben« von Stina Werenfels geehrt: die Studie einiger wohlhabender Zürcher, deren mühsam aufrecht erhaltene Fassade von Harmonie und Anstand während eines Grillabends erbarmungslos in sich zusammenfällt. Der Preis der DEFA-Stiftung ging an Henner Wincklers »Lucy«, der unaufgeregt den Alltag einer minderjährigen Mutter zwischen Pflicht und Freiheitsdrang zeichnet. Überhaupt zeigte die DEFA-Stiftung in Schwerin große Präsenz. Schon im Vorfeld des Festivals war eine Fotoausstellung »Gesichter der DEFA« eröffnet worden, bei der Annekathrin Bürger aus ihrer entstehenden Autobiografie las. Während der Filmtage erinnerte eine kleine Retrospektive an Meisterwerke aus Babelsberg, darunter Konrad Wolfs »Sterne« und Helmut Dziubas »Sabine Kleist, sieben Jahre ...«, dessen DVD-Premiere in Schwerin gefeiert wurde. Christa Wolf las aus ihren Texten, dazu lief »Der geteilte Himmel«. Nicht zuletzt lenkte eine kleine Retrospektive mit Arbeiten, die in den vergangenen fünfzehn Jahren von der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern mit gefördert worden sind, die Aufmerksamkeit auf Nach-Wende-Wege einstiger DEFA-Mitarbeiter. Gerade dieses Zusammenspiel von neuen und älteren Werken macht Schwerin so spannend: Erregend war zum Beispiel zu sehen, dass das Thema der Terrorismusangst, der damit verbundenen Manipulationen von Öffentlichkeit und der staatlichen Repression nicht erst von »Schläfer« entdeckt, sondern bereits in Filmen von Peter Welz (»Burning Life«, 1994) und Reinhard Hauff (»Messer im Kopf«, 1978) gültig gestaltet wurde. Letzteterer lief im Rahmen einer Werkschau des Schauspielers Bruno Ganz, der den Ehrenpreis des Festivals, den »Fliegenden Ochsen«, erhielt. Mit solchen Höhepunkten hat sich das Schweriner Filmkunstfest längst einen anerkannten Platz im Reigen der deutschen Filmfestivals erobert. Im Moment besteht die Gefahr, dass dieser Platz durch provinzielle Querelen, bei denen es, wie so oft, vor allem um Geld geht, gefährdet werden könnte. Der Ausweg aus Kompetenzgerangel und finanziellen Engpässen liegt womöglich in einer organisatorischen Neustruktur: Das Osteuropa-Filmfestival in Cottbus hat erfolgreich vorgemacht, dass die Gründung einer professionellen Festival-GmbH zur komplexen organisatorischen Absicherung von Nutzen sein kann. Auch die besten Traditionen kommen ohne Erneuerungen nicht aus.
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