Die Farben des Anfangs
sere Anfänge sehen. Zwei Bücher sind dazu erschienen. Über Kindheit und Jugend zweier Frauen in der frühen DDR, wo sich Weichen stellten. In ihrem eigenen Leben und für die Existenz der DDR auch. Beide haben dieses Land schließlich hinter sich zurückgelassen, bevor es sich selbst zurückließ. Es sind zwei Debüts. Jenseits der fünfzig die eine, Barbara Boy, jenseits der sechzig die andere, Ricarda Bethke.
Wie ist man zu dem gewor den, was man heute ist, wann ereigneten sich die entscheidenden Übertritte ins Neue, ins Eigene? Wann und warum wurde das, was bis eben schmerzhaft wichtig war, plötzlich nebensächlich? Wie sehr sind wir uns in unseren vermeintlich abrupten Zuund Abwendungen trotzdem gleich geblieben? Luise Rinser hat gesagt, alles, was sie in ihrem späteren Leben gewusst hat, habe sie auch schon als junges Mädchen gewusst. Nur anders. Kann man das messen? Nein, man kann es nur vage erinnern, und in immer enger werdenden Umkreisungen zu benennen versuchen. Aber das Leben sträubt sich gegen das Ausgesprochen-Werden. Christa Wolf hat das einst in ihren «Kindheitsmustern» erfahren und durchgekämpft. Und Christoph Hein hat mit «Von allem Anfang an» vielleicht sein schönstes Buch geschrieben. Erinnern braucht viel Zeit und ist eine beinahe detektivische Arbeit. Wir müssen uns selbst nachspüren wie einem Dieb auf der Flucht, der mit sich genommen hat, was doch uns gehört. Wir schauen uns dabei selbst an: mitunter erschreckend fremd.
Ricarda Bethke besitzt den distanzierten Blick einer Außenseiterin, die sich doch so gern ganz ohne Vorbehalt begeistern würde, aber irgendetwas macht sie zunehmend kalt gegenüber dem, was man von ihr fordert. Es liegt am Kindheitsbild der «anders roten Fahnen», wie sie sie bei der Großmutter sah, «ausgebleichter, kleiner als die neuen aus der HO». Minutiös beschreibt sie, über sich selbst nachdenkend, auch den Zustand ihrer Generation. Einer Generation von Kindern lange übermächtiger Eltern: «Etwas scheint allen gemeinsam. Waren ihre Eltern gegen die Nazis und sind die deshalb jetzt im Recht oder sogar an der Macht, dann sind die Kinder gegen die Macht über haupt und wollen Kunst.» Ricarda Bethke: Die anders rote Fahne. Fischer. 284 S., geb., 39,90 DM. Barbara Boy: Traumschuster. Edition Nautilus, 250 S., geb., 32DM.
Ricarda Bethke wurde Zeichenlehrerin. Seit Mitte der achtziger Jahre schrieb sie dann für den Rundfunk Kinderhörspiele, später auch für Zeitungen. Indem wir selbst immer wieder anfangen, kindlich-naiv im Zutraun auf Welt, holen wir auch ein Stück der lange zurückliegenden Kindheit wieder herauf. Es gibt eine Anfangslücke, sagt Peter Sloterdijk, den blinden Fleck des Schöpfungsmoments. Wir sind Zeugen unserer Entstehung erst ab einem bestimmten Punkt der Einsichtsfähigkeit. Der Anfang ist immer das Bild, das wir uns von ihm machen. Ein Hohlspiegel, in dem sich Licht sammelt. Also auch Farbe.
Ricarda Bethke greift weit zurück. Die ersten hundertfünfzig Seiten, das ist gut die Hälfte des Buches, schreibt sie über die Großmutter, die Eltern, Onkel und Tanten. Das langweilt keinen Augenblick, denn Ricarda Bethke gelingt es in ihrer höchst präzisen Sprache mittels kleinster Details, sich selbst als Kind in diese unmittelbare Nachkriegswelt hineinzustellen. Die ist vom Überlebenswillen und der Improvisationsfähigkeit der Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten geprägt. So entsteht Atmosphäre. Wir haben Teil an den Nöten des jungen Mädchens, das früh die Erfahrung macht, die Chance und Gefahr zugleich bedeutet, anders zu sein als die anderen. Vor allem ir gendwie unhübsch fühlt sie sich, gemieden von den jungen Männern: «Ich kenne keine Schlagersänger, ich habe noch nie mit einem Mann geschlafen. Ich war noch nie in Westberlin. Ich glaube an den Kommunismus, obwohl ich nicht in die Partei will. Ich verstehe alle Berlinerischen Witze nicht. Ich habe eine unmögliche Frisur, nämlich gar keine.» Man schenkt ihr nichts, alles muss sie sich vom Leben rauben: «Ich trage meine ersten Küsse wie eine Beute nach Hause.» Erste ganz eigene Einsichten auch: «Ich verwandele mich wieder in einen Gegenstand, duldend, aber beobachtend.»
Und immer der Traum von einem anderen Sozialismus, einem, der keine spießige Verbotsbürokratie wie die DDR ist, wo unauffällige Angepasstheit immer mehr zur alleinigen Tugend avanciert, sondern eine Gesellschaft im Aufbruch, die mit der Kraft und Fantasie des Einzelnen rechnet. So bekommt ihr Blick auf DDR-Alltag durchaus eine leise Melancholie, ist darum aber nicht weniger präzise. Wie lieblos war da vieles, welche Gleichgültigkeit auch: «In der Schulspeisungsbaracke stehen lange Tische, bedeckt mit eingerissenen Wachstuchdecken. Ihre bräunlichen Blümchen unterscheiden sich kaum von den Suppen- oder Puddingflecken. Die Stuhlreihen stehen eng. Die Kinder stoßen sich und verschütten viel: die fünf möglichen Essen der Schulspeisung sind: Eintopf mit Pudding, Blutwurst mit Sauerkohl, Spinat mit Ei, Makkaroni mit Jagdwurst, saure Eier mit Kartoffeln und Krautsalat.» Das ist ganz ohne selbstgerecht anklagende Beitöne geschrieben. Wer sich nicht aus ideologischer Ver zweiflung die Vergangenheit rosarot malt, muss sagen, es stimmt.
Glaubt man diesem Wortwerdungsversuch von gelebtem Leben? Unbedingt, weil man spürt, da hat es sich jemand niemals leicht gemacht. Das gibt den Worten Gewicht, ohne sie unnötig zu beschweren. Die Poesie dieser Selbstansicht kommt aus der immer währenden Suche, der unbedingten Frage danach, wie man richtig leben soll.
Genau daran aber, an einer unvoreingenommenen Suche nach dem richtigen Leben, an fortwährender Selbstbefragung, mangelt es dem zweiten autobiografischen Versuch: Barbara Boys «Traumschuster». Dieses Buch ist nur auf einen Punkt hin geschrieben: Sie will in die Freiheit. Von Kindesbeinen an. Das heißt, in den Westen. Das ist vor sätzlich simpel gedacht und wird ebenso angestrengt wie selbstgerecht ein ganzes Buch lang durchexerziert. Freiheit klingt hier wie eine Doktrin, die dumm macht. Lauter schale Gewissheiten und keine brennenden Fragen.
Auf bizarre Weise verunglückte Sprachbilder spiegeln das unfreiwillig: «Ich schüttelte wütend meinen Hohlkopf.» Einer der wenigen Sätze dieses Buches, denen man glaubt. Oder wir lesen Beschreibungen, wie diese eines Parteisekretärs: «Er war ein kleiner giftiger Gnom. Mit gelben Raffzähnen lächelte er scheinheilig ...» und «schielt» dabei permanent auf den Busen einer Schülerin. Barbara Boy war so freiheitsliebend, dass sie in der Schule den Russischunterricht boykottierte, innerlich. Ansonsten sog sie Wissen auf «wie ein Schwamm». Für das spätere Leben in Freiheit, versteht sich. Ein Buch, das keiner braucht. Eine treffende Charakterisierung gibt Barbara Boy aparterweise selbst: «Das war ja alles noch schlimmer als Courths-Mahler.»
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