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Behinderte, die doppelt anders sind

Studie Körperlich und seelisch beeinträchtigte sowie homosexuelle Menschen werden mehrfach diskriminiert Von Simone Schmollack

  • Lesedauer: 3 Min.

Mehr Selbstbestimmung, mehr gleichberechtigte Teilhabe - das gestern beschlossene Behindertengesetz kann nur ein Anfang sein, wie die Lebenssituation behinderter schwuler und lesbischer Menschen zeigt.

Hitler fand ich nicht gut, aber für solche wie euch sollten trotzdem die Gaskammern geöffnet werden.» Diese Worte schmetterte ein Vater seiner stark sehbehinderten Tochter entgegen, als diese ihren Eltern eröffnete, dass sie (auch noch) lesbisch ist. Nun war die Tochter «doppelt anders»: körperbehindert und homosexuell.

«Doppelt anders» lautet auch der Titel der bundesweit ersten Studie zur Lebenssituation junger schwuler, lesbischer und bisexueller Menschen mit Behinderung, die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Wenngleich das Fazit der Studie vorher sehbar erscheint - Homosexuelle mit Behinderungen werden häufiger diskriminiert als andere Menschen so legt die Untersuchung jedoch eines offen: Die stärkere Diskriminierung ist nicht der «anderen» sexuellen Identität geschuldet, sondern erfolgt in erster Linie aufgrund der Behinderung. «Behinderten wird Sexualität oft abgesprochen», sagte Martin Marquard, Landesbeauftragter für Behinderte. So gebe es in Deutschland keinerlei Untersuchungen zum Themenkomplex Behinderungen und Sexualität. Mädchen und Jungen mit Behinderungen würden in der Regel von ihren Eltern weder aufgeklärt, noch wahrten Mütter und Väter eine Intimsphäre ihrer Kinder, fügte Silke Rudolph hinzu. Die Sozialpädagogin hat die Studie im Auftrag des Jugendnetzwerkes Lambda und der Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin durchgeführt.

Silke Rudolph hat dazu junge Frauen und Männer befragt, die in Großstädten aufgewachsen sind. Die Daten seien aber durchaus auf ländliche Gegenden über tragbar, so die Rehabilitationspädagogin. Wobei dort bestimmte Formen der Diskriminierung allerdings noch stärker ausgeprägt seien. Der Grund hierfür liege unter anderem in den Lebensformen ländlicher Regionen bzw. denen von Kleinstädten, die weniger offen und freier seien als in Großstädten.

Behinderte Lesben, Schwule und Bisexuelle erleben laut Studie ihr Coming out sechs Jahre später als nichtbehinderte Homosexuelle. Als Gründe gaben die Betroffenen eine stark ausgeprägte Sehnsucht nach Familie und Kindern an sowie die Angst vor noch stärkerer Ausgrenzung. Und in der Tat müssen insbesondere schwule Männer in der eigenen Szene er leben, dass sie verlacht und abgeschottet werden. Persönliche und körperliche Kontakte kommen kaum zustande. Die Lesbenszene gebe sich nach außen hin weniger ausgrenzend, hat Silke Rudolph durch die Studie herausgefunden, betreibe aber ebenso stark eine subtile Diskriminierung. «Behinderte Lesben befinden sich in einer Scheinakzeptanz», sagte Silke Rudolph. «Es ist erschreckend, wie eine Szene, die selbst diskriminiert wird, Lnterdrückung in einer anderen Form weitergibt», meinte Claus Nachtwey vom Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Senatsschulverwaltung. Gerade in der Schwulenszene herrsche ein Körperkult vor, der weniger attraktive und auch behinderte schwule Männer an den Rand drücke. Behinderte Lesben und Schwule klagten darüber, dass sie nicht nur ausgegrenzt und diskriminiert wür den, sondern dass sie auf Grund ihrer eingeschränkten Mobilität kaum Möglichkeiten hätten, zu Einrichtungen speziell für Homo- und Bisexuelle zu gelangen. Der Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweise plant daher unter anderem die Entwicklung einer mobilen Beratung, die nicht im Senatsgebäude stattfindet, sondern ins Haus kommt. Um behinderte Menschen ganz gleich, welche sexuelle Identität sie besitzen aus der Grauzone der Asexualität herauszuholen, will der Behindertenverband im Herbst dieses Jahres eine Befragung zum sexuellen Leben Betroffener durchführen. «Der Nachholebedarf ist sehr groß. Bisher gibt es so gut wie kein Material», erklärte Martin Marquard. Darüber hinaus werde angestrebt, Sexualität als Fachgebiet in die Aus- und Fortbildung pädagogischer und pflegerischer Kräfte aufzunehmen.

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