Das Entweder-Oder-Prinzip
Wjatscheslaw Daschitschew über die sowjetische Deutschlandpolitik Diskussion
Von Karlen Vesper
Es habe viel zu lange das Denken in Entweder-Oder-Kategorien dominiert, meinte Wjatscheslaw Daschitschew, einst außenpolitischer Berater von Gorbatschow und Jelzin. Für Lösungen jenseits dogmatischer Schemata habe er wider in Klassenkampf-Vorstellungen verfangene Hardliner gestritten. Als «Ver räter» wurde er beschimpft - im eigenen Land, aber auch und gerade in der DDR. Das Institut für vergleichende Staat-Kir che-Forschung hat am späten Montagabend in Berlin zu einer Diskussion mit dem russischen Historiker und Politologen geladen. Wie der stellvertretende Leiter der finanziell nicht gerade reichen wissenschaftlichen Einrichtung, Joachim Heise, informierte, war dies dank Unter Stützung der Stiftung West-Östliche Begegnungen des Theologen Franz von Hammerstein möglich. Eine Reise von Moskau nach Berlin kostet halt mehr als «nur zwei Stunden vierzig Minuten», wie es noch in einem FDJ-Politsong hieß.
Daschitschew offenbarte zunächst seine Motive, sich seit Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre für eine Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik eingesetzt zu haben. «Für mich war klar, dass der Kalte Krieg, Resultat der Politik Stalins, für die Sowjetunion unerträglich war.» Er habe die Mitarbeiter seiner Abteilung für internationale Probleme am Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems aufgefordert, zu bedenken, wie Kalter Krieg und Hochrüstung beendet werden und man zu einem politischen Ausgleich zwischen Ost und West kommen könne. «Uns war klar, dass dies nicht von heute auf morgen zu erreichen ist.»
Schon Anfang der 80er Jahre habe er als Grundsätze formuliert. Verzicht der Losung vom Klassenkampf in der Außenpolitik, Absage an «Messianismus», Schaffung gleichberechtigter Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten, Bruch mit der Breschnew-Doktrin und der außenpolitischen Zielstellung, die Herr schaft des Sozialismus auf die Länder der Dritten Welt auszuweiten. Sein Institut habe der sowjetischen Führung diverse Denkschriften und Arbeitspapiere vorgelegt, die jedoch erst mit Gorbatschows Machtantritt Aufmerksamkeit fanden. Dieser habe vor allem geholfen, das «Haupthindernis» auf dem Weg zur Beendigung der Blockkonfrontation zu beseitigen: die deutsche Zweistaatlichkeit. Gor batschows Traum von einem vereinten Europa sei nicht zu verwirklichen gewesen unter Aufrechterhaltung der deutschen Teilung, betonte Daschitschew.
In der Folge skizzierte er die Auseinandersetzungen mit dem politischen Establishment in Moskau. Einer Lösung der deutschen Frage, wie sie ihm vorschwebte, standen Rezeptionen der Nomenklatura entgegen, die die DDR als «sozialistischen Hort» begriffen, der die Sicherheit der UdSSR garantiere. «Einflussreiche Kräfte der KPdSU des KGB und des Ver teidigungsministeriums hielten es für ihre heilige Pflicht, für die Erhaltung der DDR und des Status quo zu sorgen.» Gorbatschow habe sich «nicht so kompromisslos in der deutschen Frage gezeigt, wie etwa die Abteilung für internationale Angelegenheiten» im ZK der KPdSU.
Dem Leser zur Erinnerung: Im November 1987 hatte Daschitschew in einem Vortrag - erstmals wieder seit der Stalin- Note Anfang der 50er - eine Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik mit der Option einer deutschen «Wiedervereinigung» zur Sprache gebracht. Im Juni des folgenden Jahres nannte er auf einer Pressekonferenz in der Bonner Sowjetbotschaft die Berliner Mauer ein «Relikt des Kalten Krieges», das verschwinden sollte. Und im April 1989 verfasste er ein Memorandum, in dem er für die Überwindung der deutschen Teilung plädierte. Eine Offensive, die SED-Chef Erich Honecker zu seinen berühmt-berüchtigten Bonmots provozierte: «Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter» und «Die Mauer wird noch in 100 Jahren stehen ...».
Der 9 November ›89 so Daschitschew, habe Gorbatschow «vor eine harte Bewährungsprobe gestellt, denn nun trat die Entwicklung in eine neue Phase; die entscheidende Rolle begann das deutsche Volk zu spielen». Die neue Situation habe auch günstigere Bedingungen geschaffen, um die Sowjetunion aus dem Ost-West- Klassenkampf herauszuführen, «denn der Schlüssel zur deutschen Einheit befand sich immer noch in Moskau».
Im Zuge der sich hernach überstürzenden Ereignisse prallten die Vorschläge der Gorbatschow-Berater Valentin Falin und Daschitschew konträr aufeinander. Während Falin z. B. auf militärischer Neutralität des vereinten Deutschlands bestand, gab es nun für Daschitschew nur ein Entweder-Oder- Entweder überlässt man den Deutschen selbst die Entscheidung über ihre Bündniszugehörigkeit, oder man ver eitelt deren Vereinigung und damit auch «Chancen für die Sowjetunion, aus der Konfrontation auszubrechen, die unsere Wirtschaft überstrapazierte».
Stichwort für den letzten DDR-Ministerpräsidenten: Lothar de Maiziere brachte seine Verwunderung über das geringe Gespür seiner damaligen sowjetischen Gesprächspartner für wirtschaftliche Probleme zum Ausdruck. Sowie darüber, dass der Sofioter Gipfel Anfang 1990 den RGW-Rubel aufkündigte und den Geldtransfer innerhalb der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft auf Dollarbasis umstellte, «wo wir doch alle keine Devisenreserven hatten». Auch diese Entscheidung konsequentes Entweder-Oder?
Fest steht, hätte die Diskussion an diesem Montagabend vor einem breiteren Publikum stattgefunden, wäre sie nicht so ruhig und harmonisch verlaufen. Die geradezu intime Atmosphäre in dem kleinen Kreis ost- und westdeutscher Wissenschaftler, Ex-Politiker und ehemaliger Unterhändler ließ keine hitzige Erregung aufkommen, wie man sie andernorts er lebte. Lediglich eine ältere Dame gestattete es sich, an den Gast die Frage zu richten, ob Moskau in den Verhandlungen 1990 nicht doch zu viele Kompromisse eingegangen sei - zum Schaden der SU wie auch der DDR-Bürger, die ein schlecht zusammengeschusterter Einigungsver trag vom Regen in die Traufe schickte.
Ich fragte mich nach diesem Abend, ob es nicht müßig sei, zehn Jahre danach über «was wäre wenn» zu streiten. Es ist geschehen. Vorbei. Dennoch. Mancher meint, die Ostdeutschen hätten nur vor der Wahl gestanden, entweder weiter in einem orthodoxen Sozialismus mit begrenzten Freiheiten (Preß- Meinungs- Reisefreiheit) oder im Kapitalismus mit eingeschränkten Freiheiten (Recht auf Arbeit, bezahlbare Wohnungen etc.) zu leben. Was ist besser, was angenehmer? Sören Kierkegaard war von der Absurdität des Strebens nach dem Entweder-Oder überzeugt, die er scheinbar unlogisch begründete: «Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen ... Erhänge dich, du wirst es bereuen; erhänge dich nicht, du wirst es auch bereuen; erhänge dich oder erhänge dich nicht, du wirst beides bereuen.» Vereinigt euch oder vereinigt euch nicht egal? Für Zyniker. Denn da sind die ostdeutschen Erfahrungen mit den drei großen «A»s: Ar beitslos, Abgewickelt, Abgeurteilt.
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