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Der zweite Geburtenknick

Kommission erarbeitete Vorschläge für die Rettung möglichst vieler Grundschulen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.
Brandenburg muss auf eine sinkende Zahl von Geburten und Einschulungen reagieren. Die Gemeinschaftsschule könnte Schließungen verhindern.

Die Mädchen, die durch den Geburtenknick nach der Wende nicht geboren wurden, können nun keine Kinder bekommen. Sie fehlen nun als Mütter. Ab 2017 werden deshalb die Einschulungen in Brandenburg noch einmal drastisch abnehmen. Es droht eine weitere Welle von Schulschließungen. Eine Kommission des Brandenburger Landtags suchte nach Möglichkeiten, Grundschulen in ländlichen Regionen zu retten. Am Montag wurde der Abschlussbericht vorgestellt.

Zur Ausgangslage: Das Land Brandenburg verlor seit 1990 unter dem Strich 100 000 Einwohner und damit mehr als drei Prozent seiner Bevölkerung. Die Zahl der Geburten fiel von etwa 36 000 im Jahr 1990 auf lediglich 12 400 im Jahr 1993. Das war der Geburtenknick. Danach stieg die Zahl der Geburten bis zum Jahr 2000 auf 19 000 und bewegt sich seitdem auf diesem Niveau. Doch es steht ein zweiter Einbruch bevor. Bis zum Jahr 2030 wird ein Absturz auf dann nur noch 9900 Geburten prognostiziert.

Fakten
  • In der Kommission, die 2012 eingerichtet wurde, saßen Experten aus Wissenschaft und Verwaltung sowie Landtagsabgeordnete.
  • »Hauptursache ist und bleibt, dass zu wenig Geld im System ist, das ändert sich nicht durch ein Herumdoktern an einzelnen Stellschrauben«, monierte FDP-Fraktionschef Andreas Büttner. Er war in die Kommission berufen, nahm aber an den Sitzungen nicht teil.
  • Von 1992 bis 2000 sank die Zahl der Einschulungen in Brandenburg von 37 000 auf 15 000. Bis 2006 erfolgte ein Wiederanstieg auf 20 000. Seitdem schwanken die Einschulungen um diese Zahl. Es wird prognostiziert, dass ab 2017 ein kontinuierlicher Rückgang bis auf 12 700 im Jahr 2030 erfolgt.

Bislang wurde der Rückgang der Geburten durch Zuzüge ins Berliner Umland aufgefangen. Doch selbst dort wird in Zukunft die Zahl der Geburten sinken. Außerdem wird nur noch mit moderaten Wanderungsgewinnen gerechnet. Seit 1997 mussten in Brandenburg 200 von einstmals 645 Grundschulen geschlossen werden. Dabei erlaubten Ausnahmegenehmigungen des Bildungsministeriums für abgelegene Ortschaften sogenannte Kleine Grundschulen mit nur 45 Jungen und Mädchen, die in drei jahrgangsübergreifenden Stufen unterrichtet werden, etwa zusammen die 1. und 2. Klasse, die 3. und 4. beziehungsweise die 5. und 6. Klasse. Voraussetzung dafür: Andernfalls wäre für ein Drittel der Schüler der Weg zur Schule so lang geworden, dass sie dafür länger als eine halbe Stunde benötigt hätten. 50 Schulschließungen konnten durch das Modell Kleine Grundschule zunächst verhindert werden. 20 solcher Schulen gibt es gegenwärtig.

Weil in den kommenden Jahren eine neue Welle von Schulschließungen droht, sollte sich die Kommission Lösungen überlegen. Man schaute sich die Konzepte anderer Länder an. Schleswig-Holstein reagierte auf sinkende Schülerzahlen, indem es Grundschulen zusammenlegte, so dass an einigen Orten nur noch Filialen bestehen. Nordrhein-Westfalen senkte die Mindestschülerzahl. Im Pustertal im italienischen Südtirol gibt es sehr kleine Klassen. Auf einen Lehrer kommen dort im Schnitt lediglich acht Schüler. An deutschen Auslandsschulen in Singapur und Chiang Mai (Thailand) wird Französisch mit Videokonferenztechnik unterrichtet. Die Kommission sieht: bei sehr vielen kleinen Schulen benötigt das Land mehr Lehrer und die Zwergschulen bergen auch die Gefahr, dass dort für bestimmte Fächer die Fachlehrer fehlen. Und Unterricht per Videotechnik sollte es nicht mehr als zwei Stunden am Tag geben. Andererseits sollen die Schulwege nicht immer länger werden.

Die Experten rechneten vier Varianten durch. Variante A: In ländlichen Regionen dürfen alle Grundschulen mit mindestens 45 Schülern weitermachen. 100 bis 120 Grundschulen könnten gerettet, nur 10 bis 20 müssten dichtgemacht werden. Die Mehrkosten würden sich auf acht bis neun Millionen Euro im Jahr für 160 bis 180 Lehrerstellen belaufen. Variante B: Kleine Grundschulen werden nur überall dort zugelassen, wo es sonst im Amt beziehungsweise in der amtsfreien Gemeinde überhaupt keine Grundschule mehr geben würde. 20 bis 30 Schulen wären dadurch gerettet, 50 bis 60 Schulen würden auslaufen. Die geschätzten Mehrkosten bei dieser Variante liegen bei 2,5 bis 3,5 Millionen Euro jährlich für 50 bis 70 Lehrerstellen. Variante C: Es werden wie in Schleswig-Holstein Filialen gebildet. 10 bis 20 Schulen müssten trotzdem mit dem Aus rechnen, kosten würde es 6,5 bis 7,5 Millionen. Variante D: Mehrere Grundschulen schließen sich zu einem Verbund zusammen. Bis Klasse 4 wird wohnortnah mit mindestens 30 Schülern gelernt. Wenn in der 5. und 6. Klasse viele Spezialfächer dazukommen, erfolgt der Unterricht am weiter entfernten Hauptstandort des Schulverbundes. Für diese Variante liegt keine Kostenschätzung vor.

Im Ergebnis empfiehlt die Kommission Kleine Grundschulen und Filialen, die aber nur ausnahmsweise in ländlichen Regionen zugelassen sein sollen. Pädagogen sollen für den jahrgangsübergreifenden Unterricht fortgebildet, Schulverbünde sollen als Modellversuch erprobt werden.

Der Städte- und Gemeindebund wandte sich gegen jede weitere Schließung, und wenn auch nur zehn Schulen betroffen wären. Das Schulnetz sei »bereits stark ausgedünnt«, die Grenze der Zumutbarkeit erreicht oder sogar überschritten. Mehrkosten von neun Millionen Euro seien vertretbar.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schlägt vor, bei den Überlegungen einen Schritt weiter zu gehen und Gemeinschaftsschulen für die Klassen 1 bis 13 einzuführen. Diese Idee entspricht den Vorstellungen der Linkspartei. Die Sozialisten haben sich vorgenommen, nach der Landtagswahl 2014 dafür zu sorgen, dass in Brandenburg erste Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden. Den Kommissionsbericht nennt die Abgeordnete Gerrit Große (LINKE) eine gute Grundlage für eine Stabilisierung des Grundschulnetzes. Es seien Wege aufgezeigt, fast alle der 300 Grundschulen außerhalb des Berliner Speckgürtels zu retten.

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