Lichtblick für Senioren

In Stuttgart kommen Kinder regelmäßig mit verwirrten alten Menschen zusammen – beide profitieren

  • Wenke Böhm
  • Lesedauer: 4 Min.
Demente Senioren und quirlige Viertklässler – kann das gutgehen? Es kann. Das beweist das Projekt »Besuch im Anderland«, das von Stuttgart aus inzwischen weite Kreise zieht.

»Hallo, ich bin die Ju-li-a.« Höflich und mit klarer Stimme geht die Zehnjährige auf jede Seniorin in der Runde zu und schüttelt ihr die Hand. Oft bekommt sie ein Lächeln zurück. Die Viertklässlerin macht schon zum zweiten Mal beim Stuttgarter Projekt »Besuch im Anderland« mit, und weiß, wie man die zum Teil stark dementen Frauen im Stuttgarter Generationenzentrum am besten anspricht. »Ich freue mich immer, hier herzukommen«, sagt sie.

»Besuch im Anderland« ist ein Stuttgarter Projekt, das Schule macht. Die Idee hat Wolfgang Strobel 2004. Schon ein Jahr später bekommt er den Bürgerpreis, allein für den Initialfunken. »Herr Strobel war ein Pionier«, sagt Hans-Jürgen Freter von der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft (DAlzG) in Berlin. Inzwischen beteiligen sich acht Schulen, auch je eine in Dortmund und Berlin. Zudem gibt es mittlerweile eine ganze Reihe weiterer generationenübergreifender Projekte für Menschen mit Demenz, wie Freter mitteilt.

Im Seniorenheim werden die acht Schüler sehnsüchtig erwartet. »Ich habe geschaut, wann sie kommen«, sagt Bewohnerin Ursula Cichon und lächelt. Mit den Kindern zieht Leben in die Gruppe. Im Sommer spielen sie manchmal zusammen Boule, doch heute steht Besinnliches auf dem Programm. Die Kinder haben mit Nelken gespickte Orangen mitgebracht, die weihnachtlichen Duft im Raum verbreiten. Dazu gibt es ein kurzes Theaterstück. Einige der sieben Seniorinnen sind mit strahlenden Augen bei der Sache. Andere wirken abwesend, rufen aber beim Singen die Liedtexte fehlerfrei ab. »Ich habe Kinder immer gern gehabt, weil sie auf einen zukommen und offen sind«, schwärmt Maria Stadie (91).
Initiator Strobel hat 2004 eine Ausbildung zum »Mentor für Bürgerbeteiligung« gemacht. »Alle Teilnehmer mussten sich ein soziales Projekt ausdenken«, erzählt der 70-Jährige. Seine Idee, die alten Menschen mit Kindern zusammenzubringen, »war wirklich total neu«, berichtet er. 2009 gründet er den Verein »Besuch im Anderland«. Es gebe einen besonderen Draht zwischen Alt und Jung, betont er. »Viele Senioren werden halt kindähnlicher.«

Anfangs habe es Zweifel gegeben, ob Schüler ab der dritten Klasse die »Krankheit des Vergessens« schon verstehen. Strobel erklärt ihnen kindgerecht, was mit den Senioren passiert. »Ich ziehe dann den Vergleich zu alten Rohren, die verkalken und nicht mehr so durchlässig sind.« Seine Erfahrung: Erwachsene haben oft mehr Angst vor Demenz als Kinder. Dass einige Seniorinnen sich beim nächsten Besuch nicht an sie erinnern, mache ihnen nichts aus, sagen Julia und ihre Klassenkameraden.
Das Stuttgarter Projekt war 2012 für den Deutschen Alterspreis der Robert-Bosch-Stiftung nominiert und schaffte es unter die letzten 10 von rund 300 Bewerbern. »Für die Robert-Bosch-Stiftung zeichnet sich das Projekt vor allem dadurch aus, dass Schüler durch den Besuch von Menschen mit Demenz im Heim Verständnis und Fürsorge für Menschen entwickeln, deren Krankheit in der Öffentlichkeit noch immer viel Angst hervorruft«, hieß es in der Begründung. Mittlerweile gebe es deutschlandweit mehrere Projekte dieser Art, sagt Anna Miller von der Bosch-Stiftung. »Es passiert schon was, aber der Bedarf ist auch unheimlich groß. Da werden noch große Aufgaben auf uns zukommen.«
Jetzt befasst sich der G8-Gipfel mit dem Thema Demenz. Erst vergangene Woche hatte die Organisation Alzheimer's Desease International (ADI) steigende Zahlen gemeldet. 44 Millionen Menschen lebten derzeit weltweit mit der Krankheit. 2030 würden es voraussichtlich 76 Millionen und 2050 dann 135 Millionen Menschen sein. In Deutschland sind laut DAlzG rund 1,4 Millionen Menschen betroffen. Bis 2050 wird von drei Millionen Erkrankten ausgegangen.

Es gebe deutliche Defizite, wenn es darum gehe, pflegende Angehörige zu entlasten, betont Freter. Projekte wie »Anderland« seien nicht flächendeckend und auch keine große Bewegung, aber kleine Lichtblicke. »Für die alten Menschen ist das eine feine Sache.«
Im Stuttgarter Generationenzentrum geht die Zeit »viel zu schnell« rum, sind sich Alt und Jung einig. Zum Abschied geben die Kinder noch Armbänder aus Pfeifenputzern aus – als Andenken. In zwei Wochen ist die nächste Gruppe der Klasse dran, zwei Wochen später die dritte. Danach ist das erste Team wieder an der Reihe. Julia schaut fast betrübt in die Zukunft, auf die Zeit an der weiterführenden Schule: »Nächstes Jahr kann ich leider nicht mehr mitgehen.« dpa

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