Geburtsfehler und Illusionen?

Vor 95 Jahren wurde die KPD gegründet. Gedanken beim neuerlichen Lesen des Parteitagsprotokolls

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 6 Min.

Angesichts der gegenwärtigen erstarrten politischen Verhältnisse erscheint das revolutionäre Pathos, das die Gründungskonferenz der Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) beherrschte, befremdlich. Da will die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste »Urkatastrophe« mitgedacht werden. Was hatte dieser Krieg alles angerichtet: Millionen Menschen durch Granaten zerfetzt, durch Kugeln verstümmelt, an Giftgas erstickt, erblindet oder verätzt, durch Hunger, Kälte und Seuchen dahingerafft, durch schlimmste Erlebnisse traumatisiert. Und an seinem Ende gehörte der Umgang mit Waffen noch immer zum Alltagsgeschehen.

Auch bei vielen Menschen, die sich als Sozialisten verstanden, hatte sich die von den Herrschenden missbrauchte nationale Verwurzelung als mächtiger erwiesen als die internationale Solidarität der Ausgebeuteten. Statt dem entgegenzuwirken, waren die Führungen der meisten sozialistischen Parteien auf den Kriegskurs ihrer Regierungen eingeschwenkt. Und nun schickten sie sich an, im Bündnis mit den alten Gewalten die radikalen revolutionären Kräfte niederzuschlagen. Die Begründer der KPD sahen sich einer Rat der Volksbeauftragten genannten sozialdemokratischen Regierung gegenüber, die nichts Eiligeres zu tun hatte, als die in der Novemberrevolution ins Leben getretenen Arbeiter- und Soldatenräte so rasch wie möglich wieder zu Grabe zu tragen. Ohne diesen Hintergrund ist das Protokoll des Gründungsparteitages der KPD nicht zu verstehen.

Für die Arbeiterbewegung stellten sich viele Fragen neu: die Rolle des Parlamentarismus und die Bedeutung des parlamentarischen Kampfes, gemessen an den Möglichkeiten direkter Demokratie; Beschaffenheit und Organisationsstruktur einer proletarischen Aktionspartei; die Stellung zu den Gewerkschaften und die Arbeit in diesen; das Spannungsverhältnis von Nationalem und Internationalem und anderes mehr. Auf viele dieser Fragen schienen im damaligen Stadium der russischen Revolution die Bolschewiki eine erfolgverheißende Antwort gefunden zu haben.

Insofern entsprach die Tagesordnung des am 30. Dezember 1918 im Festsaal des Preußischen Abgeordnetenhauses beginnenden Parteitages den Anforderungen der Zeit und besaß ihre Logik. Behandelt wurden die Notwendigkeit einer Trennung von der 1917 gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und der Konstituierung einer eigenen Partei; die unmittelbare politische Orientierung, festgemacht an der Positionierung zum Rätesystem einerseits und zur Nationalversammlung andererseits; die Programmatik der neuen Partei mit dem besonderen Zuschnitt auf Erfahrungen und Perspektiven der deutschen Revolution und die sich daraus ergebenden strategischen und taktischen Schlussfolgerungen sowie Charakter und Struktur der KPD im Gegensatz zum sozialdemokratischen »Wahlverein«; wirtschaftliche Kämpfe und Internationalismus.

Ist die Radikalität, mit der sich viele Delegierte dieses Parteitages positionierten, eingedenk der Zeitumstände nachvollziehbar, so stellt sich doch die Frage, wie realistisch solche Standpunkte und Forderungen waren.

Viele Werktätige verstanden damals nicht, warum sich Karl Liebknecht der Mitarbeit in einer Regierung verweigerte, in deren Bildung sie einen Erfolg ihres revolutionären Aufbegehrens erblickten. Liest man seine Argumente mit den Erfahrungen der Folgezeit, zeigt sich: Die Gründe, die er benannte, verweisen vorausschauend auf eben jene Halbheiten, an denen die Weimarer Republik zu Grunde gegangen ist. Das musste nicht zwangsläufig so eintreten, denn es eröffneten sich wiederholt Alternativen. Aber es ist so eingetreten.

Revolutionäre Illusion dominierte bei der Ablehnung der Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung. Allen Delegierten war klar, dass diese Nationalversammlung als konterrevolutionärer Gegenpol zum Rätesystem einberufen worden ist. Im Irrtum waren diejenigen, die meinten, ein solches Parlament bliebe eine Episode in einer sich steigernden Revolution, weshalb eine Wahlbeteiligung reine Kraftvergeudung wäre. Der Widerspruch ist frappierend. Niemand zweifelte daran, dass die Kommunisten allenfalls als kleine Minderheit in die Nationalversammlung einziehen könnten. Und dennoch hofften die meisten Delegierten auf eine sich bald formierende Mehrheit, die dieses Parlament hinwegfegen würde. Auf taube Ohren des maskulinen Parteitages stießen die mahnenden Worte Käthe Dunckers. Sie fragte, wie man den Frauen, denen ein halbes Jahrhundert lang das Wahlrecht vorenthalten worden war, erklären wolle, dass sie ihr endlich errungenes Recht nun nicht wahrnehmen sollten.

Gleicherweise realitätsfern lesen sich Ausführungen, die in der Losung »Heraus aus den Gewerkschaften!« gipfelten. Wäre abgestimmt worden, hätte sich wohl auch dafür eine Mehrheit ergeben. Die Gewerkschaftsführer hatten sich wahrlich mit ihrer Burgfriedenspolitik und Streikbrecherei hinreichend diskreditiert. Und mit weitreichenden Rechten ausgestattete Räte in Politik und Wirtschaft waren als alternative Interessenvertretung durchaus denkbar. Aber die realexistierenden Räte wurden einer solchen Rolle in der Regel keineswegs gerecht. Für die tagtägliche Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit blieben Gewerkschaften unverzichtbar. Sie dafür zu befähigen, blieb Aufgabe revolutionärer Politik.

Die auf dem Gründungsparteitag artikulierten linksradikalen Optionen wurden zwar auf den nächsten Parteitagen korrigiert. Rückfälle in eine sektiererische Gewerkschaftspolitik blieben dennoch nicht aus. Die Tendenz der Ablehnung parlamentarischer Demokratie wirkte fort, auch zu einer Zeit, als es galt, diese Demokratie mit allen Mitteln und allen möglichen Partnern gegen die Gefahr des Faschismus zu verteidigen. An dieser Hinterlassenschaft des Gründungsparteitages der KPD kommt niemand vorbei.

Lassen sich somit derartige Geburtsfehler der KPD als Präludium späterer stalinistischer Deformationen der kommunistischen Bewegung interpretieren? Das nun gerade nicht.

Von Personenkult auf diesem Parteitag keine Spur. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren zweifelsfrei anerkannte und hochgeschätzte Führungspersönlichkeiten. Und dennoch - bei Abstimmung über die Wahlbeteiligung zur Nationalversammlung unterlagen sie einer Mehrheit, die sich von den Argumenten der Zentrale nicht überzeugen ließ. Die auf dem Parteitag vorgetragenen organisationspolitischen Vorschläge zielten nicht auf die Verankerung eines die Mitglieder entmündigenden demokratischen Zentralismus, sondern sahen autonome Basisorganisationen in Betrieben und Wohngebieten vor. Nicht eine das Volk vertretende Vorhutpartei, nicht irgendwelche Behörden oder Institutionen, sondern die Massen selbst sollten ihre wirklichen Interessen wahrnehmen und »durch eigene Aktivität, Schritt um Schritt den Sozialismus ins Leben einführen«. Wie anders hörte sich das Jahrzehnte später auf der 2. Parteikonferenz der SED an, als der Staatsmacht die Rolle des Hauptinstrumentes bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus zugewiesen wurde.

Der Gründungsparteitag der KPD zollte den Kommunisten Russlands großen Respekt, aber von der Anerkennung einer sowjetischen Führungsrolle war er weit entfernt, zumal auch der Vertreter der Kommunistischen Partei Russlands Karl Radek mit der bevorstehenden Verlagerung des revolutionären Schwerpunktes in das ökonomisch weiter entwickelte Deutschland rechnete. Befürworter des revolutionären Terrors stießen auf begründeten Widerspruch.

Der Gründungsparteitag der KPD war eine Veranstaltung, auf der niemand diszipliniert wurde und auf dem überhaupt niemand in der Lage war, andere zu disziplinieren, es sei denn durch Beschlüsse der Mehrheit. Die beträchtlichen Gegensätze, die sich in programmatischen und strategischen Fragen auftaten, wurden hier offen ausgetragen. Und offen war auch der weitere Weg, den diese Partei einschlagen würde. Er wäre gewiss anders verlaufen, hätten die Mordkommandos der Konterrevolution nicht unmittelbar nach ihrer Gründung diese Partei ihrer fähigsten Köpfe beraubt.

Professor Günter Benser, Jg. 1931, war vom Herbst 1989 bis zu dessen Auflösung 1992 Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (IfGA) in Berlin; er ist Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei und Autor zahlreicher Bücher zur KPD und DDR.

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