Gefühlte Gefahr von oben
Verschwörungstheoretiker demonstrieren gegen »kriminelle Experimente«
Der Wittenbergplatz sieht viele Demonstrationen. Der Auflauf am vergangenen Samstag zählt sicherlich zu den Sonderbarsten. Ein junger Mann diskutiert am Rande mit einer älteren Teilnehmerin, beide tragen Pelzmäntel. »Wir wollen bei diesem Thema keine Veralberungen«, ermahnt sie ihn mit ernster Stimme und erntet verständnislose Blicke. Er bleibt in seiner Rolle, einen in Alufolie eingeschlagenen Sombrero-Hut zu seinen Füßen. Mit ihm sind etwa ein Dutzend Menschen einem Facebook-Aufruf gefolgt, die »Chemtrail-Trottel« auszulachen.
Nicht sehr zum Lachen ist denjenigen, die bei zweistelligen Minusgraden tatsächlich dem Aufruf zum »Global March against Chemtrails« (von englisch chemistry/Chemie und contrail/Kondensstreifen) gefolgt sind. Angeblich finden an diesem Tag in 100 Städten weltweit Aktionen zu diesem Thema statt. Dicht gedrängt stehen etwa 80 Menschen im Halbkreis um eine kleine Lautsprecheranlage. Auf einem Transparent, das neben den Rednern angebracht ist, ist von einem »weltweiten Genozid« die Rede. Die Teilnehmer eint der Kampf gegen vermeintliche Klimamanipulationen. »Geoengineering« nennen es die, die an sie glauben. »Es klingt wie eine unglaubliche Horrorphantasie«: So beginnt ein auf der Kundgebung verteiltes Flugblatt. Neueste Enthüllungen hätten bestätigt, heißt es weiter, dass im Rahmen eines US-Projektes von Flugzeugen aus eine gefährliche Aluminium-Mischung in den Himmel gesprüht wird. Das Ziel dieser »kriminellen Experimente« sei es, die Erdatmosphäre abzukühlen, um die Ozonschicht zu »sanieren.«
»Hässliche Krankheitserscheinungen« wie Atemnot und Gleichgewichtsstörungen seien die Folge der Beimischung der Schwermetalle zum herkömmlichen Flugtreibstoff, warnt der Mann am Mikrofon. Harald Kautz-Vella, der nach eigenen Angaben intensiv zu den angeblich aluminiumgetränkten Kondensstreifen geforscht hat, redet sich in Rage: Im strafrechtlichen Sinne bewege man sich im Bereich des Vorwurfs der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Typisch für Verschwörungstheoretiker wähnt er sich im Kampf um die unterdrückte Wahrheit. Er erzählt die Geschichte eines »alten Bekannten« vom Wetterdienst. Täglich würde der Meteorologe auf dem Radar Chemtrails beobachten. Vor Gericht will dies der Bekannte aber nicht bezeugen, aus Angst um seinen Job, erzählt Kautz-Vella.
Dieselbe Geschichte gab er bereits zuvor in einem Video auf dem Verschwörungsportal »bewusst.tv« zum Besten. Dort ist ein kruder Mix von allem zu finden, was die Szene zu bieten hat. Der Weg zum Gedankengut der extrem rechten »Reichsbürger« ist nicht weit. Moderator und häufiger Gesprächspartner bei »bewusst.tv« ist Jo Conrad. Nach Recherchen von Antifaschisten war er vor einigen Jahren an der Gründung eines »Fürstentums Germania« beteiligt. In einem leerstehenden Schloss in der brandenburgischen Provinz sollte die »Abspaltung von der BRD« vollzogen werden. Einige Klicks weiter wird für die antisemitischen Lehren der »Neuen Germanischen Medizin« geworben. Für Begründer Ryke Geerd Hamer sind tödliche Krankheiten wie Krebs und AIDS Folgen »seelischer Konflikte.« Schulmedizinische Therapien erklärt zu Instrumenten der systematischen Vergiftung durch jüdische Ärzte.
Die Themen gleichen auch in Schöneberg einem bunten Gemischtwarenladen. Ein Teilnehmer warnt vor Handy-Strahlung, ein anderer fordert den Austritt aus dem Euro. Mittendrin steht eine Frau mit einem Schild des Anti-Globalisierungs-Netzwerks »attac«.
Die wenigen Passanten, die nah genug an der Kundgebung vorbeikommen, reagieren irritiert auf das krude Spektakel. Auch das Medieninteresse ist begrenzt, aber dafür international. Der russische Nachrichtensender »Russia Today« streift auf der Suche nach Interviewpartnern durch die überschaubare Menge.
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