Kein Boss, elf Chefs

Das Veganladen-Kollektiv ist gerade ein Jahr alt geworden und damit einer der jüngsten selbstverwalteten Betriebe Berlins

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 7 Min.
In Kollektivbetrieben gibt es keine vertikalen Hierarchien, aber selbstbestimmtes Arbeiten. Für die Gründer des Veganladens in Neukölln ist die Art des Zusammenarbeitens noch wichtiger als der Inhalt.

Ravn ist der Besitzer eines kleinen IT-Unternehmens. Gegenüber seinen Angestellten gibt er sich als Vize-Chef der Firma aus. Unpopuläre Entscheidungen schiebt die Hauptfigur des Films »The Boss of it All« des dänischen Regisseurs Lars von Trier aus dem Jahr 2006 auf jenen titelgebenden »Chef des Ganzen« ab, von dem er behauptet, er lebe in den USA. Tatsächlich ist dieser Boss Ravns Alter Ego.

Auch Dr. Pogo ist ein Chef, der es sich in der Ferne gemütlich gemacht hat. Dr. Pogo lebt auf Hawaii, ist Arzt und propagiert vegane Ernährung - gänzlich frei von Tiererzeugnissen - als wertvoll, weil gesund. Einen Herrn Pogo gibt es genauso wenig wie Ravns »Boss of it All«, er gehört aber zum Gründungsmythos des Veganladens »Dr. Pogo« in Berlin-Neukölln. Irgendwo kam dieser Name her (Pogo war der Hund eines Kollektivmitglieds und der »Dr.« sollte dem ganzen einen seriösen Anstrich geben), und irgendwie war dann dieser Hawaii-Arzt geboren.

Jugoslawien war einst ein Modell: Selbstverwaltung ist dort nur noch Geschichte

Als am 27. Dezember 2012 das Insolvenzverfahren gegen das Pharma-Unternehmen »Jugoremedija« in Zrenjanin eröffnet wurde, war das Schicksal des letzten selbstverwalteten Betriebes in Serbien besiegelt. Zehn Jahre lang hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter mit zeitweise großem Erfolg um die Fortführung des jugoslawischen Modells der Arbeiterselbstverwaltung gekämpft. Staatliche Repression im Verein mit Finanzverfahren machten dem Versuch ein Ende.

Erstmals umgesetzt wurde die Idee, Beschäftigte an den Betrieben zu beteiligen, in denen sie tätig waren, im November 1949. Damals erließ die Tito-Regierung ein Dekret, wonach in 215 großen Kombinaten Arbeiterräte gebildet werden sollten, die über sämtliche innerbetrieblichen Angelegenheiten mitzubestimmen hätten. 1953 kam die Selbstverwaltung als Eigentumsform in die Verfassung. Eigene Komitees entschieden über Anstellungsverhältnisse, Einkommensverteilung, Wohnungszuweisung, Arbeitsschutz und Vermarktung. In der westlichen Linken bestaunt, war die Arbeiterselbstverwaltung den politischen Eliten im Osten suspekt bis gefährlich. Innerhalb Jugoslawiens gab es Kritik an der damit verbundenen Herausbildung einer Arbeiterbürokratie sowie an der Tatsache, dass das System nicht von unten erkämpft, sondern von oben bestimmt worden war.

Drei Privatisierungswellen seit 1989 machten der spezifisch jugoslawischen Eigentümerform den Garaus. Während es unter Präsident Slobodan Milosevic 1997 noch den Unternehmensversammlungen überlassen blieb, einer Privatisierung zuzustimmen, die dann allerdings den Staat als 30-prozentigen Miteigentümer auf den Plan rief, betrieben die Regierungen seit 2001 harte direkte Enteignungen.
Die Arbeiter des Pharma-Unternehmens »Jugoremedija« wehrten sich, gemeinsam mit einem halben Dutzend anderer Betriebe, dagegen. Mit einem Streik im Dezember 2003 machten sie auf Versuche der rechtsliberalen Regierung aufmerksam, per Kapitalaufstockung die Mehrheitsanteile in staatliche Hand zu bekommen und diese dann zu privatisieren.

Zehn Jahre lang hielten die 500 Arbeiter polizeilichen Maßnahmen, physischen Drohungen und wirtschaftlichem Druck stand. Selbst die unter fadenscheinigen Gründen vorgenommene Verhaftung des Direktors am 20. September 2012 überlebte der Betrieb. Das Ende kam mit einem Konkursantrag. »Jugoremedija« konnte offene Rechnungen unter anderem deshalb nicht begleichen, weil der Staat selbst hohe Schulden beim Pharma-Unternehmen hatte.

Slowenien ist in gewisser Weise die einzige Nachfolgerepublik, in der sich Arbeitereigentum, wenn auch in kapitalisierter Form, erhalten hat. Bei der Privatisierung in den 1990er Jahren wurde den Betriebsangehörigen die Möglichkeit geboten, vorzugsweise Anteile an den privatisierten Unternehmungen zu erwarben. Mit Arbeiterselbstverwaltung hat dies freilich nichts mehr zu tun.

Von Hannes Hofbauer

Anders als im erwähnten Film wälzen die Mitarbeiter des Veganladens keine unpopulären Personalentscheidungen auf Dr. Pogo ab - solche gibt es nämlich nicht. Aber auch sie setzen manchmal auf Verantwortungsdiffusion: Wenn jemand anruft und mit dem »Chef« sprechen will, sich aber niemand mit der Anfrage befassen möchte, dann lautet die Antwort: Der Chef ist nicht da. Ein Running Gag: Der Laden wird kollektiv geführt. Es gibt also keinen Chef - oder eben elf Chefs. In Kollektivbetrieben gibt es auch keine vertikalen Hierarchien, dafür aber selbstbestimmtes Arbeiten.

Der Laden am Richardplatz in Neukölln ist gerade ein Jahr alt geworden und damit einer der jüngsten selbstverwalteten Betriebe Berlins. An der hinteren Wand stehen Kühlschränke, energieeffizient und mit Öko-Strom betrieben. An der Wand daneben hängt eine Karikatur: Eine Kuh dreht ihren Kopf nach hinten zu einem Mann, der gerade dabei ist, sie zu melken. »Hey, was machst du da?«, fragt sie ihn. Tierprodukte sind im Veganladen tabu, trotzdem gibt es auch hier Milch, Joghurt und Käse. Nur wird dafür keine Kuh angezapft, sondern Getreide oder pflanzliches Fett genutzt. Oberstes Ziel des Veganladen-Kollektivs: die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur durch den Menschen abzuschaffen. Zumindest in den eigenen Räumen.

Ein Jahr, da ist es bereits Zeit für die erste Bilanz: »Der Traum ist wahr geworden«, sagt Andreas vollkommen ohne Ironie. Andreas ist einer der elf Chefs oder »Kollektivistas«, wie er sich und seine Mitstreiter nennt. Der Traum, das ist ein Laden, der gut angenommen wird, mit Kollegen, die sich gut verstehen und gemeinsam die Verantwortung für das Geschäft tragen, denen das Projekt wichtig ist, für die der Veganladen letztlich aber auch nur ihr Arbeitsplatz ist. Andreas nahm im Oktober 2011 am ersten Gruppentreffen teil. Seit Sommer 2012 ist das Kollektiv konstant - es gibt keine Zu-, vor allem aber keine Abgänge. Für Andreas ist auch das ein Erfolg.

»Der Wille und der Wunsch, ein Kollektiv zu gründen, sind wesentlich stärker als noch vor zehn Jahren«, sagt Katja Grabert vom Netzwerk Selbsthilfe: Immer mehr Menschen lassen sich vom Netzwerk und der AGBeratung bei der Gründung eines Kollektivs beraten. Darunter sind Cafés und Kneipen und Projekte mit Bildungsangeboten. Vor kurzem habe sich auch eine Gruppe von Türsteherinnen und Türstehern beim Netzwerk informiert. Grabert führt das darauf zurück, dass die Arbeitsbedingungen immer prekärer werden. »In Kollektiven sind sie das meistens auch, aber selbstbestimmt prekär.« Wie viele von den Ideen letztlich realisiert werden, weiß Grabert nicht, genauso wenig, wie lange die Projekte bestehen bleiben. Sie schätzt, dass in den vergangenen fünf Jahren allein in Berlin rund 30 sich selbst als Kollektiv verstehende Gruppen neu gegründet wurden. Genaue Zahlen gibt es nicht, das Netzwerk selbst, das bereits seit den 1980er Jahren Kollektive berät, führt genauso wenig wie eine andere Stelle Statistiken über dem Bestand.

Kollektive oder selbstverwaltete Betriebe sind schon deshalb schwer zu fassen, weil es in Deutschland keine eigenständige Rechtsform für sie gibt. Sie verstecken sich hinter Genossenschaften, Personengesellschaften und GmbHs, die offiziell Geschäftsführer und Angestellte haben.

Die erste große Welle an Kollektiven schwappte in den 1970er und 1980er Jahren über Deutschland und insbesondere über Westberlin. Davon sind Grabert zufolge in Berlin noch zwischen 50 bis 80 übrig geblieben. Viele der selbstverwalteten Betriebe teilten das Schicksal mit Wohn- und Hausgemeinschaften aus der gleichen Zeit, die über die Jahre entmietet und als einzelne Wohnungen privatisiert wurden. Auch viele Betriebe wurden mit der Zeit zu regulären Unternehmen mit vertikalen Hierarchien, Chefs und Angestellten umgebaut. Als Reaktion auf diese Entwicklung hat sich im Wohnbereich das Mietshäusersyndikat gegründet, das mit Direktkrediten und Vereinsstrukturen dafür sorgen soll, dass Mietshäuser nicht auf den freien Markt gelangen und zu Spekulationsobjekten werden. So soll unter anderem ermöglicht werden, dass die Mieten möglichst niedrig bleiben.

Etwas ähnliches gibt es für Kollektivbetriebe nicht. Aber auch sie haben gelernt und regeln ihre tatsächliche Struktur mittlerweile häufig durch interne Zusatzverträge. So auch der Veganladen in Berlin-Neukölln, dessen Mitarbeiter sich für die Vereinsform entschieden haben, »weil ein Verein nicht privatisiert werden kann«, so Andreas. Die elf Kollektivistas sind Angestellte des Vereins, den sie selbstironisch »Vegane Pampe« genannt haben. Der Binnenvertrag legt fest, dass alle gleichberechtigt sind, im Ernstfall alle zu gleichen Teilen haften, und dass im Laden nur die Mitglieder des Kollektivs arbeiten dürfen. »Wir wollen kein Zweiklassensystem, in dem die Kollektivistas das Sagen haben und die Angestellten nur ausführende Kräfte sind«, sagt Andreas. Und: »Selbstbestimmtes, hierarchiefreies Arbeiten ist für uns das Schönste.« Doch das funktioniere nur, wenn alle mitwirken, weil sie hinter der Idee stehen, nicht, weil sie in erster Linie am Stundenlohn interessiert sind.

Auch die Backstube in Berlin-Kreuzberg, die 2014 ihr 33-jähriges Bestehen feiert, ist ein Kollektiv, das in den Händen der Menschen liegt, die hier backen, verkaufen und Waren ausfahren. Dennoch gibt es Angestellte. Doch auch das hat einen Zweck, der mit dem Kollektivgedanken verbunden ist - angestellt ist man während einer Art Bewährungsfrist, bevor man in das Kollektiv aufgenommen wird. Andere Kollektive weichen jedoch auch für kurzfristige Engpässe auf befristet Beschäftigte aus.

In der Regel zahlen sich in Kollektiven alle Mitglieder den gleichen Lohn aus. Im Veganladen gibt es einen einheitlichen Stundenlohn - wer mehr arbeitet, bekommt am Ende des Monats auch mehr ausbezahlt. Die meisten arbeiten nur wenige Stunden, weil sie noch studieren oder andere Jobs haben. Andreas gehört zu den wenigen, die sich ihren Unterhalt mit der Arbeit im Laden verdienen - mit 30 Stunden pro Woche. Mehr soll auch niemand für das Kollektiv aufbringen: »Wir wollen nicht, dass sich Spezialisierungen herausbilden und letzten Endes nur einer alles weiß.« Deshalb wird zwischen den Aufgaben rotiert - allerdings in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Bestellungen aufgeben kann jeder mal, in die Finanz-AG, die Abrechnungen macht und Honorare ausbezahlt, ist nach einem Jahr zum ersten Mal ein Mitglied neu eingewechselt.

Zwei Kollegen teilen sich immer eine Schicht. Vormittags werden Waren in die Regale eingeräumt und die Trockenprodukte aufgefüllt, die in großen Boxen im Laden stehen. Die Kunden können sich die Menge an Haferflocken, Nüssen und Co. selbst abfüllen. Der Einkauf großer Mengen statt kleiner abgepackter Tüten spart dem Kollektivbetrieb Geld, wodurch es die Produkte günstiger anbieten kann. Dennoch erledigen nur wenige Kunden hier ihren Wocheneinkauf, die meisten sehen den Veganladen als Spezialitätengeschäft, zu dem sie aus ganz Berlin anreisen, um milchfreien Käse oder veganes Tierfutter zu kaufen. Auch für Hunde muss es nicht immer Rind sein. »Katzen sind meist etwas schwieriger«, erzählt Andreas.

Auch die Kollektivmitglieder leben vegan - zusammen seit 82 Jahren. Mit dem Veganladen wollten sie eine Lücke füllen, die durch die Schließung des Kreuzberger Veganladens Veni Vidi Vegi Ende Oktober 2011 entstanden war. Außerdem gab es zum Zeitpunkt ihrer Gründung noch kaum einen Bioladen in Neukölln. Auch dieses Segment decken sie ab. »Wir sind aber alle undogmatisch«, sagt Andreas. Sie wollen nicht missionieren. Beratung ist dennoch eine ihrer Aufgaben. Viele Menschen kommen in das Geschäft und erkundigen sich über Veganismus. Aber nicht nur das: Die Kollektivmitglieder beraten bereits andere Gruppen, die selbstverwaltete Betriebe gründen wollen.

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