Diskutieren soll helfen

Marzahn-Hellersdorf gibt sich als erster Berliner Bezirk ein umfangreiches Konzept zur Demokratieentwicklung

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf will künftig verstärkt mit Schulen und der Wirtschaft gegen Rassismus und nationale Parolen vorgehen und gibt sich ein ambitioniertes Demokratisierungskonzept.

In Hellersdorf wird mit einem Flugblatt großflächig gegen das dortige Asylbewerberheim gehetzt. »Euer Kind fragt Euch in zehn Jahren, Mama und Papa, warum habt Ihr nichts getan?!« steht dort. Als »Argumente« gegen das Heim in der Carola-Neher-Straße werden eine angeblich steigende Kriminalität angeführt, Sozialleistungen für die dort lebenden Asylsuchenden in einer Fantasiehöhe von zehn Millionen Euro sowie »erhöhte Ansteckungsgefahr durch bei uns ausgestorbene Krankheiten«. Wer sich in diesem Sinne aktiv betätigen möchte, soll auf einen anonymen Anrufbeantworter sprechen oder eine Mail an die ebenfalls anonym agierende rechtslastige Bürgerbewegung Hellersdorf schreiben.

Landet man auf einem Anrufbeantworter der NPD, wenn man dort anruft? Will die NPD auf diese Weise Daten für den nächsten Wahlkampf sammeln? Es käme auf einen Selbstversuch an. Für eine Verbindung in die rechtsextreme Partei spräche, dass die seit Wochen auf ihrer Website eine Petition zur sofortigen Schließung eben dieses Asylbewerberheimes ankündigt und nach eigenem Bekunden bereits dabei ist, Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Auch die anonyme Bürgerbewegung wirbt auf ihrer Facebookseite für solche Unterschriften.

Unterschriften übrigens, die man für eine Petition gar nicht benötigt. Auch ein einzelner Bürger kann sich an den Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses wenden. Dessen Vorsitzender Andreas Kugler (SPD) erklärt, eine solche Petition sei derzeit noch nicht eingegangen. Seine Kollegin Anja Kofbinger von den Grünen äußert sogar Zweifel, ob solch eine Petition aus formalen Gründen überhaupt zulässig sei.

Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf beabsichtigt nicht, auf diese Hetze zu reagieren. »Wir müssen nicht über jeden Stein springen, den die Rechten uns in den Weg legen«, begründete Bürgermeister Stefan Komoß (SPD) gestern vor der Presse. Das bringe in seinen Augen den Rechten unnötige Aufmerksamkeit und verschwende Zeit, die der Bezirk anders besser investieren könne. »Statt auf jede Attacke der Rechten zu reagieren, konzentrieren wir unsere Kräfte, um zu agieren«, sagt Komoß. Er stellte der Presse ein ambitioniertes Konzept des Bezirkes zur Demokratieentwicklung vor. Das wurde zusammen mit der Alice-Salomon-Hochschule erarbeitet.

Marzahn-Hellersdorf ist der einzige Berliner Bezirk mit einem solchen ganzheitlichen Konzept und bekommt dafür berlinweit viel Lob, beispielsweise von Carl Chung von der berlinweit tätigen mobilen Beratung. »Da ist Marzahn-Hellersdorf anderen Bezirken ein Stück voraus,« sagt der. Mit Sportvereinen, der lokalen Wirtschaft und Schulen will man Demokratieprozesse initiieren. Gedacht ist beispielsweise an Diskussionen um Fairplay in Sportvereinen und gegen Mobbing und Rassismus. »Damit erreichen wir auch politikferne Teile der Bevölkerung«, so Komoß. Solche gebe es auch im Kiez rund um das Asylbewerberheim, was man an der massiven Wahlenthaltung dort in den letzten Jahren ablesen könne. »Das ist ein Indikator für Demokratiedefizit. Es ist für uns eine Herausforderung, mit einer Zielgruppe zu kommunizieren, die versucht, sich von der NPD abzugrenzen, ohne dann aber gleich für das Flüchtlingsheim zu sein.«

Warum der Bezirk dann aber das Flugblatt nicht zum Anlass nimmt, gerade gegenüber diesen Menschen zu argumentieren, blieb unklar. LINKE und Piraten im Bezirk sehen das übrigens anders. »Richtig ist, dass wir agieren sollten statt zu reagieren«, sagt Steffen Osther von den Piraten des Bezirkes. »Das darf aber nicht dazu führen, dass wir überhaupt nicht reagieren.« Der linke Bezirksverordnete Christian Ronneburg wird deutlicher: »Gegenüber der selbst ernannten Bürgerbewegung sind wir als Demokraten in eine Defensive geraten und müssen wieder in die Offensive kommen.« Ein Patentrezept habe er nicht. »Aber die Unterschriftensammlung mit ihrer menschenverachtenden Hetze dürfen wir nicht ignorieren. Da müssen wir als Demokraten laut aufschreien.«

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