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Der Sturz erfolgte aus großer Höhe

Der Brite Frederick Taylor entdeckte ein deutsches Trauma, das bis heute nachwirkt: die Inflation der 1920er Jahre

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein britischer Historiker berichtet, wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg und das Ende des Kaiserreichs, die Inflationszeit, die anschließenden besseren Jahre der Weimarer Republik und die Weltwirtschaftskrise erlebten. Im Mittelpunkt des Zeitgemäldes von Frederick Taylor stehen die Jahre vom Kriegsende bis zur »deutschen Hyperinflation« im Herbst 1923. Bereits während des Ersten Weltkrieges sei es zur Geldentwertung gekommen. »Gemacht«, also von der Politik bewusst und systematisch vorangetrieben, wurde die Inflation dann von deutschen Nachkriegskabinetten. Um der Welt zu demonstrieren, dass Deutschland nicht in der Lage sei, die ihm 1919 im Versailler Vertrag auferlegte Reparationslast zu schultern. Das war die Funktion der Inflation nach außen. Ihre Aufgabe nach innen bestand darin, dass sie dem Staat erlaubte, das Geld zu konfiszieren, das seine Bürger ihm freiwillig als Anleihen gegeben hatten, um den Krieg siegreich zu führen.

»Die Deutschen«, die sich mit der rasanten Geldentwertung auseinanderzusetzen hatten, sind für Taylor nicht nur Generale, Politiker und Bankiers. Er widmet sich auch dem Schicksal von Büroangestellten, Industriearbeitern Witwen; Soldaten und kleinen Geschäftsleuten. Ihm geht es mehr noch als um die Finanz- und Wirtschaftsgeschichte jener turbulenten Zeit um die Sozialgeschichte der jungen Weimarer Republik. Taylor analysiert nicht nur die große Politik, er erzählt auch anschaulich, was »den Leuten« geschah, wie sie reagierten und wie sie das Trauma der totalen Geldentwertung für sich verarbeiteten.

Unter der raschen Entwertung ihrer Währung litt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Deutschland, sondern eine ganze Anzahl von Ländern der Kontinents, vor allem in Osteuropa. Der Brite stellt ausdrücklich die Frage, warum sich die Inflationserfahrung ins Gedächtnis der Deutschen tiefer einprägte und länger nachwirkte als in allen anderen Ländern Europas. Seine Antwort: Dies sei darauf zurückzuführen, dass die diversen Schichten der deutschen Gesellschaft unterschiedlich stark von der Geldentwertung betroffen waren und die Inflation sich daher sozial differenzierender auswirkte, als in anderen europäischen Staaten. Der Autor vertritt in diesem Zusammenhang auch die Ansicht, deren negative Folgen hätten sich für die Arbeiterschaft wie auch die Landbevölkerung bis zum Beginn der Hyperinflation im Sommer 1923 in Grenzen gehalten. Von der Geldentwertung hauptsächlich betroffen sei Deutschlands gebildete Mittelschicht gewesen.

Diese sich hauptsächlich aus der Intelligenz und den Beamten zusammensetzende Schicht habe sich in den Jahrzehnten des Kaiserreichs rascher entwickelt und stärker prosperiert als im übrigen Europa. Sie sei im Deutschen Reich vor 1914 zu einer meinungsbildenden Kraft avanciert. Ihre Vertreter waren es vor allem, die als »Patrioten« die Kriegsanleihen gezeichnet hatten und deren Status und Vermögen die Inflation in den ersten Nachkriegsjahre vernichtete. »Der Sturz des Bildungsbürgertums erfolgte aus großer Höhe«, schreibt Taylor, deshalb erschien die Weimarer Republik für sie nicht als eine Alternative zum Kaiserreich. Das Bildungsbürgertum unterstützte mehrheitlich die politische Rechte. Auch die Rathenau-Mörder rekrutierten sich aus dieser Schicht der Inflationsgeschädigten.

Die Bildungsbürger, argumentiert der britische Historiker weiter, hätten in der Weimarer Zeit ihr verständliches Gefühl von Verlust und Ungerechtigkeit an die nächste Generation weitergegeben, ebenso ihre Sicht auf Geldentwertung überhaupt. Deshalb blieb diese in Deutschland als eine allgemeine nationale Katastrophe im Gedächtnis. Seitdem hätten die Deutschen stets mit Anspannung die Geldpolitik ihrer Regierungen verfolgt. Der Verzicht auf die Einbindung der Währungspolitik in die Krisenbekämpfung, z. B. unter der Kanzlerschaft Brünings (1930-1932), habe in Deutschland die Weltwirtschaftskrise verschärft und Hitler begünstigt.

Bis heute, meint Taylor, übe diese Inflationsangst einen nachhaltigen Einfluss auf die deutsche Regierungspolitik aus. Das für den Briten wenig verständliche Beharren des Kabinetts von Kanzlerin Angela Merkel auf Finanzstabilität um jeden Preis, das die Bekämpfung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise innerhalb der Europäischen Union erschwere, führt Taylor gleichfalls auf jenes Inflationstrauma der Deutschen zurück, das Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch die Hyperinflation geriert wurde.

Viele Geschehnisse der letzten Kriegsjahre, der Revolution und des ersten Jahrfünfts der Weimarer Republik, die Taylor in seinem Buch beschreibt, sind dem Leser aus der Lektüre einschlägiger Geschichtsbücher wahrscheinlich bekannt. Jedoch dürften sie ihm kaum so detailliert, so anschaulich und spannend, auch so unbefangen geschildert worden sein wie in Taylors Buch. Hinzu kommt des Briten kluge, vielfach von ost- wie westdeutscher Auffassung abweichende Interpretation der Ereignisse. Kein Zweifel - die Lektüre von Taylors Buch ist ein Lese- und Lernvergnügen zugleich.

Frederick Taylor: Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas. Siedler, Berlin 2013. 399 S., geb., 24,99 €.

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