In Weißensee ...
Europas größter Jüdischer Friedhof droht zu verfallen. Die UNESCO kann ihn retten
Ein Friedhof, der sich über ein Gelände von 42 Hektar erstreckt und damit so groß wie der Vatikan (!) ist, müsste schon aus praktischen Gründen über mehrere Zugänge verfügen. Dennoch ist seit Jahren nur einer, der Haupteingang in der Herbert-Baum-Straße, geöffnet. Wer immer den Friedhof bei Tage betritt, muss am Mahnmal für die sechs Millionen Juden, die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden, vorbei. Und an den Augen der Friedhofsverwaltung. Friedhöfe, insbesondere dieser, sollten Orte des Friedens sein. Sie sind es, leider, noch immer nicht. Mehrfach wurden hier Gräber geschändet, zuletzt 1971, 1992 und 1999.
Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee ist der größte seiner Art in Europa. Natürlich erklärt sich seine Größe zunächst aus der Unverletzbarkeit der Gräber - sie sind für die Ewigkeit angelegt, denn die Toten erwarten in ihnen nach jüdischem Glauben die Auferstehung. Eine Einebnung nach 20 Jahren, wie auf christlichen Friedhöfen üblich, ist demzufolge unvorstellbar, so dass ihre Zahl beständig wächst und der Flächenbedarf enorm ist. Dass der Weißenseeer Friedhof aber nicht nur groß, sondern der größte Europas ist, hat damit zu tun, dass er bereits 1880 in Dienst gestellt wurde und noch heute in Betrieb ist. Und damit, dass die Jüdische Gemeinde Berlins bis zu ihrer fast vollständigen Deportation und Vernichtung in den Konzentrationslagern nicht unbedingt zu den kleinsten gehörte. 1875, als sie das Gelände erwarb, zählte sie 65 000 Mitglieder. Heute zählt sie noch (oder wieder) 12 000. Zu wenig, als dass sie im Stande wäre, die schier endlosen Gräberfelder, die schon seit langer Zeit verfallen, aus eigener Kraft zu pflegen und zu erhalten.
Im Frühjahr ist der Friedhof vom Gezwitscher der Vögel erfüllt. Stimmen der Stille. Sie fliegen einem aus den mächtigen Platanen, Kastanien, den Buchen, Linden, Birken entgegen, von überallher. Die Baumkronen überschatten weite Teile des Areals wie ein Dach. Nur ab und zu bricht ein Sonnenstrahl hindurch: Spiel aus Dunkelheit und Licht, Schönheit und Verfall. Undurchdringlich die alten Abteilungen: Die Grabsteine, die Baumstämme, der Boden von Efeu überwuchert - lang ist's her, dass ein menschlicher Fuß sich hier einen Weg bahnte. Manche Grabplatte, die sich arg neigt, wird mit einer Bohle gestützt, andere sind bereits umgestürzt... Man mag eine solche Friedhofsästhetik - Kreislauf aus Vergehen und Wachsen, wieder in die Natur eingehen - als sinnvoll, ja wunderbar empfinden. Doch wie gesagt, dem jüdischen Glauben widerspricht sie, und Verfall hat es an sich, fortzuschreiten. Tatsächlich ginge ein einzigartiges Zeugnis jüdischer Kultur verloren, wenn es nicht gelänge, ihn aufzuhalten. So angemessen still es auch ist: Der ganze Friedhof erzählt Geschichte. 40 Millionen Euro wären nötig, ihn von Grund auf instand zu setzen. Deshalb bemüht sich die Jüdische Gemeinde schon seit längerem darum, dass die UNESCO ihm einen Platz auf der Liste des Weltkulturerbes einräumt.
Da, wo Chamottefabriken stehn
- Motorgebrumm -
da kannst du einen Friedhof sehn,
mit Mauern drum.
Jedweder hat hier seine Welt:
ein Feld.
Und so ein Feld heißt irgendwie:
O oder I ....
So begann Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger sein Gedicht »In Weißensee«. Es erschien am 19. Mai 1925 in der »Weltbühne«. Die Berliner Jüdische Gemeinde war pikiert: Sie warf dem Dichter vor, »geschmacklos, respektlos, verletzend und zynisch« zu sein. Das war er nicht. Er war Tucholsky. Spöttisch und sensibel. Genau registrierend. Der Angst vor der eigenen Endlichkeit gleichsam pfeifend die Stirn bietend.
Tatsächlich hatten sich die Gräberfelder auf dem Friedhof in Weißensee seit seiner Inbetriebnahme 1880 bis 1925 schon beachtlich vermehrt. Um die Orientierung zu erleichtern, hatte man ihnen Buchstaben zugeordnet. In der Abteilung A 1 war dereinst die allererste Beisetzung überhaupt erfolgt, und zwar die von Louis Grünbaum. Viel ist von diesem Louis Grünbaum nicht bekannt, nur dass er 60 Jahre alt geworden ist und zuletzt im jüdischen Altenheim in der Großen Hamburger Straße lebte. Und dass er Glück hatte, nicht erleben zu müssen, was sich Jahrzehnte nach seinem Tod in eben dieser Straße abspielte. In der Ehrenreihe der A 1 liegen übrigens hervorragende Persönlichkeiten des jüdischen Lebens begraben, die Zaddikim, wie die »Gerechten« heißen.
In älteren Abteilungen stößt man noch auf eine Besonderheit, die jüdische Friedhöfe traditionell auszeichnet: Alle Grabsteine sind gleich hoch und zudem von äußerster Schlichtheit. Damit soll, was die Gemeindemitglieder im Leben trennte - Armut oder Reichtum, Glück oder Unglück -, im Tode aufgehoben werden. Auf diesen Gräbern findet man auch keine Blumen. Das hat seinen guten Grund: Nach der mit strengen Regeln versehenen Trauerzeit sollen die Trauernden ins Leben zurückkehren können.
Allerdings sieht man, entgegen der Tradition, auch sehr kunstvolle Grabmonumente - sie machten den Friedhof berühmt. Ein Mausoleum aus poliertem Granit mit einer innen vergoldeten Kuppel beispielsweise ließ der Bankier Siegmund Aschrott in den Jahren 1903 bis 1904 für seine Frau Anna errichten. Mit dem Entwurf betraute er Prof. Dr. Bruno Schmitz, der auch das Leipziger Völkerschlachtdenkmal und die Kaiserdenkmale auf dem Kyffhäuser entwarf. Protzig auch das schmuckreiche Baldachingrab aus weißem Marmor des Theatergründers und -leiters Dr. Adolf Ernst und seiner Frau Rosalie. Berthold Kempinski, der 1873 das Weinrestaurant Kempinski und Co. gründete, ließ sogar ein Medaillon mit seinem Bildnis an seinem Grabmal anbringen, was im Judentum streng verboten ist ... Tucholskys spitze Feder schrieb:
Und was er für ein Herz gewesen,
hört stolz im Sarge der Bankier
in Weißensee, in Weißensee.
Dass sie Verdienst, Erfolg und erworbenen Reichtum zur Schau stellten, wie auf christlichen Fried- höfen selbstverständlich, bezeugt die Assimilation der Berliner Juden. Und jawohl, sie waren stolz darauf, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Die nahm sie durchaus offen auf: So offen, dass noch im Ersten Weltkrieg 12 000 deutsche Juden ihr Leben für das Vaterland lassen durften. 394 von ihnen wurden später im Weißenseeer Ehrenhain bestattet. Der entstand nach Entwürfen des Gemeindebaumeisters Alexander Beer - 1944 in Theresienstadt ermordet.
Noch über den Ersten Weltkrieg hinaus dauerte die Blütezeit der Gemeinde: Sie brachte hochgeachtete Ärzte, Wissenschaftler und Künstler hervor, die hier schließlich zur Ruhe gebettet wurden. So Samuel Fischer, der 1886 den S. Fischer Verlag gründete. In der Ehrenreihe der Abteilung G 1 liegt der Maler Lesser Ury, ein Wegbereiter des deutschen Impressionismus. Nicht weit von ihm Leo Gollanin, Konzertsänger und Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Auch die Grabstätten der Eltern des Filmregisseurs Ernst Lubitsch, der Eltern von Max Reinhardt, dem Regisseur und Gründer des Deutschen Theaters; der Eltern von Billy Wilder, der als Regisseur in Hollywood Karriere machte; und der Eltern von Harry Frommermann, dem Gründer der Comedian Harmonists, findet man in Weißensee. Und die der Eltern von Kurt Tucholsky. Der Vater, Alex Tuchol- sky, starb bereits 1905 in Berlin. Die Mutter hat sein Grab vermutlich gepflegt, bis sie am 16. Juli 1942, 74-jährig, mit dem 23. Alterstransport nach Theresienstadt gebracht und dort im Mai 1945 ermordet wurde.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig-, dreißig Mal den Schnee -
Und dann:
Feld P - in Weißensee -
in Weißensee.
Sechs Millionen ermordete Juden! Niemand, der nicht Zeuge war, wird sich je die Grausamkeit vorstellen können, mit der diese Leben ausgelöscht wurden. Und nicht das Grauen, das diesen Toden voranging. In Weißensee greift ab und an eine Hand nach dem Besucher. Eine junge Hand, die Hand eines Kindes wie die von David Drisdo, der nur acht Jahre alt werden durfte. Eine alte Hand wie die von Doris Tucholsky, die nach dem Ehemann auch noch den Sohn verloren hatte, der eben nicht in Weißensee begraben worden war, wie er es einst spöttisch prophezeite, sondern in Gripsholm - nachdem er sich 1935, nur 45 Jahre alt, das Leben genommen hatte. Alt, krank und allein in der Welt musste sie noch den Weg nach Theresienstadt antreten: Wer wollte so gestorben sein? So entwürdigt, gequält, so eiskalt vernichtet? Was Menschen anderen Menschen antaten, was jüdische Menschen erleiden mussten - hier streift einen eine Ahnung. Doris Tucholskys Grab übrigens ist leer. Der Stein markiert es nur symbolisch.
Obwohl jüdisches Recht die Einäscherung ablehnt, erlaubte bereits 1909 eine neue Beerdigungs- und Friedhofsordnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Feuerbestattungen. Auch dies eine Folge der Assimilierung. Dennoch halten auch heute die meisten Juden an der Erdbestattung fest, im Glauben an die Auferstehung. Insofern war die »Beseitigung« der Leichen in den Krematorien der Konzentrationslager eine besondere Infamie: Manchmal erhielten ihre Angehörigen die Urnen zugesandt, per Nachnahme. So wurde 1941 ein Urnenfeld mit Aschen aus den Konzentrationslagern angelegt. In den 70er Jahren gestaltete man dieses Feld zur Wiese um. Nun müsste es umfriedet werden ... Gepflegt das Grab von Herbert Baum, der mit seiner Frau Marianne 1939 eine Widerstandsgruppe gegründet hatte und 1942 im Polizeigefängnis am Alexanderplatz erhängt wurde. Viele kleine Steine liegen an der Gedanktafel für ihn und die anderen ermordeten Mitglieder seiner Gruppe - viele Menschen suchen diesen Ort auf. Auch frische Blumen schmücken ihn.
Auf den jüngeren Friedhofsfeldern ist Blumenschmuck keine Seltenheit mehr. Und immer öfter stehen auch russische Namen auf den Grabsteinen. Um Efim Wulfowitsch, so liest man, trauern Frau, Kinder und Enkel. 65 Jahre alt ist Efim Wulfowitsch geworden. Den größten Teil seines Lebens hat er in fernem Lande verbracht, jetzt liegt er hier in Deutschland. Ob es ihm hier gefallen hat?
Während das Feld, auf dem sich das Grab von Efim Wulfowitsch befindet, seine Vegetation erst entfalten muss, wurde diese auf dem Feld P 4 gebändigt. Mit Mitteln aus Benefizkonzerten, die der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker initiierte, konnte es im Sommer 1993 restauriert werden. Das heißt: Umgestürzte Grabsteine wurden aufgerichtet, die kleinen Wege zwischen den efeubewachsenen Grabhügeln freigelegt. So könnten dereinst wieder alle Felder aussehen. Die alten Bäume könnten beschnitten, das holprige Pflaster in den Alleen erneuert, die verrotteten Bänke instandgesetzt, die Erbbegräbnisse und Mausoleen endlich restauriert werden ...
Ja, der Jüdische Friedhof in Weißensee gehört zum kulturellen Erbe der Welt. Dieses Erbe auszuschlagen, kann sie ...
Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee ist der größte seiner Art in Europa. Natürlich erklärt sich seine Größe zunächst aus der Unverletzbarkeit der Gräber - sie sind für die Ewigkeit angelegt, denn die Toten erwarten in ihnen nach jüdischem Glauben die Auferstehung. Eine Einebnung nach 20 Jahren, wie auf christlichen Friedhöfen üblich, ist demzufolge unvorstellbar, so dass ihre Zahl beständig wächst und der Flächenbedarf enorm ist. Dass der Weißenseeer Friedhof aber nicht nur groß, sondern der größte Europas ist, hat damit zu tun, dass er bereits 1880 in Dienst gestellt wurde und noch heute in Betrieb ist. Und damit, dass die Jüdische Gemeinde Berlins bis zu ihrer fast vollständigen Deportation und Vernichtung in den Konzentrationslagern nicht unbedingt zu den kleinsten gehörte. 1875, als sie das Gelände erwarb, zählte sie 65 000 Mitglieder. Heute zählt sie noch (oder wieder) 12 000. Zu wenig, als dass sie im Stande wäre, die schier endlosen Gräberfelder, die schon seit langer Zeit verfallen, aus eigener Kraft zu pflegen und zu erhalten.
Im Frühjahr ist der Friedhof vom Gezwitscher der Vögel erfüllt. Stimmen der Stille. Sie fliegen einem aus den mächtigen Platanen, Kastanien, den Buchen, Linden, Birken entgegen, von überallher. Die Baumkronen überschatten weite Teile des Areals wie ein Dach. Nur ab und zu bricht ein Sonnenstrahl hindurch: Spiel aus Dunkelheit und Licht, Schönheit und Verfall. Undurchdringlich die alten Abteilungen: Die Grabsteine, die Baumstämme, der Boden von Efeu überwuchert - lang ist's her, dass ein menschlicher Fuß sich hier einen Weg bahnte. Manche Grabplatte, die sich arg neigt, wird mit einer Bohle gestützt, andere sind bereits umgestürzt... Man mag eine solche Friedhofsästhetik - Kreislauf aus Vergehen und Wachsen, wieder in die Natur eingehen - als sinnvoll, ja wunderbar empfinden. Doch wie gesagt, dem jüdischen Glauben widerspricht sie, und Verfall hat es an sich, fortzuschreiten. Tatsächlich ginge ein einzigartiges Zeugnis jüdischer Kultur verloren, wenn es nicht gelänge, ihn aufzuhalten. So angemessen still es auch ist: Der ganze Friedhof erzählt Geschichte. 40 Millionen Euro wären nötig, ihn von Grund auf instand zu setzen. Deshalb bemüht sich die Jüdische Gemeinde schon seit längerem darum, dass die UNESCO ihm einen Platz auf der Liste des Weltkulturerbes einräumt.
Da, wo Chamottefabriken stehn
- Motorgebrumm -
da kannst du einen Friedhof sehn,
mit Mauern drum.
Jedweder hat hier seine Welt:
ein Feld.
Und so ein Feld heißt irgendwie:
O oder I ....
So begann Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger sein Gedicht »In Weißensee«. Es erschien am 19. Mai 1925 in der »Weltbühne«. Die Berliner Jüdische Gemeinde war pikiert: Sie warf dem Dichter vor, »geschmacklos, respektlos, verletzend und zynisch« zu sein. Das war er nicht. Er war Tucholsky. Spöttisch und sensibel. Genau registrierend. Der Angst vor der eigenen Endlichkeit gleichsam pfeifend die Stirn bietend.
Tatsächlich hatten sich die Gräberfelder auf dem Friedhof in Weißensee seit seiner Inbetriebnahme 1880 bis 1925 schon beachtlich vermehrt. Um die Orientierung zu erleichtern, hatte man ihnen Buchstaben zugeordnet. In der Abteilung A 1 war dereinst die allererste Beisetzung überhaupt erfolgt, und zwar die von Louis Grünbaum. Viel ist von diesem Louis Grünbaum nicht bekannt, nur dass er 60 Jahre alt geworden ist und zuletzt im jüdischen Altenheim in der Großen Hamburger Straße lebte. Und dass er Glück hatte, nicht erleben zu müssen, was sich Jahrzehnte nach seinem Tod in eben dieser Straße abspielte. In der Ehrenreihe der A 1 liegen übrigens hervorragende Persönlichkeiten des jüdischen Lebens begraben, die Zaddikim, wie die »Gerechten« heißen.
In älteren Abteilungen stößt man noch auf eine Besonderheit, die jüdische Friedhöfe traditionell auszeichnet: Alle Grabsteine sind gleich hoch und zudem von äußerster Schlichtheit. Damit soll, was die Gemeindemitglieder im Leben trennte - Armut oder Reichtum, Glück oder Unglück -, im Tode aufgehoben werden. Auf diesen Gräbern findet man auch keine Blumen. Das hat seinen guten Grund: Nach der mit strengen Regeln versehenen Trauerzeit sollen die Trauernden ins Leben zurückkehren können.
Allerdings sieht man, entgegen der Tradition, auch sehr kunstvolle Grabmonumente - sie machten den Friedhof berühmt. Ein Mausoleum aus poliertem Granit mit einer innen vergoldeten Kuppel beispielsweise ließ der Bankier Siegmund Aschrott in den Jahren 1903 bis 1904 für seine Frau Anna errichten. Mit dem Entwurf betraute er Prof. Dr. Bruno Schmitz, der auch das Leipziger Völkerschlachtdenkmal und die Kaiserdenkmale auf dem Kyffhäuser entwarf. Protzig auch das schmuckreiche Baldachingrab aus weißem Marmor des Theatergründers und -leiters Dr. Adolf Ernst und seiner Frau Rosalie. Berthold Kempinski, der 1873 das Weinrestaurant Kempinski und Co. gründete, ließ sogar ein Medaillon mit seinem Bildnis an seinem Grabmal anbringen, was im Judentum streng verboten ist ... Tucholskys spitze Feder schrieb:
Und was er für ein Herz gewesen,
hört stolz im Sarge der Bankier
in Weißensee, in Weißensee.
Dass sie Verdienst, Erfolg und erworbenen Reichtum zur Schau stellten, wie auf christlichen Fried- höfen selbstverständlich, bezeugt die Assimilation der Berliner Juden. Und jawohl, sie waren stolz darauf, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Die nahm sie durchaus offen auf: So offen, dass noch im Ersten Weltkrieg 12 000 deutsche Juden ihr Leben für das Vaterland lassen durften. 394 von ihnen wurden später im Weißenseeer Ehrenhain bestattet. Der entstand nach Entwürfen des Gemeindebaumeisters Alexander Beer - 1944 in Theresienstadt ermordet.
Noch über den Ersten Weltkrieg hinaus dauerte die Blütezeit der Gemeinde: Sie brachte hochgeachtete Ärzte, Wissenschaftler und Künstler hervor, die hier schließlich zur Ruhe gebettet wurden. So Samuel Fischer, der 1886 den S. Fischer Verlag gründete. In der Ehrenreihe der Abteilung G 1 liegt der Maler Lesser Ury, ein Wegbereiter des deutschen Impressionismus. Nicht weit von ihm Leo Gollanin, Konzertsänger und Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Auch die Grabstätten der Eltern des Filmregisseurs Ernst Lubitsch, der Eltern von Max Reinhardt, dem Regisseur und Gründer des Deutschen Theaters; der Eltern von Billy Wilder, der als Regisseur in Hollywood Karriere machte; und der Eltern von Harry Frommermann, dem Gründer der Comedian Harmonists, findet man in Weißensee. Und die der Eltern von Kurt Tucholsky. Der Vater, Alex Tuchol- sky, starb bereits 1905 in Berlin. Die Mutter hat sein Grab vermutlich gepflegt, bis sie am 16. Juli 1942, 74-jährig, mit dem 23. Alterstransport nach Theresienstadt gebracht und dort im Mai 1945 ermordet wurde.
Du siehst noch drei, vier fremde Städte,
du siehst noch eine nackte Grete,
noch zwanzig-, dreißig Mal den Schnee -
Und dann:
Feld P - in Weißensee -
in Weißensee.
Sechs Millionen ermordete Juden! Niemand, der nicht Zeuge war, wird sich je die Grausamkeit vorstellen können, mit der diese Leben ausgelöscht wurden. Und nicht das Grauen, das diesen Toden voranging. In Weißensee greift ab und an eine Hand nach dem Besucher. Eine junge Hand, die Hand eines Kindes wie die von David Drisdo, der nur acht Jahre alt werden durfte. Eine alte Hand wie die von Doris Tucholsky, die nach dem Ehemann auch noch den Sohn verloren hatte, der eben nicht in Weißensee begraben worden war, wie er es einst spöttisch prophezeite, sondern in Gripsholm - nachdem er sich 1935, nur 45 Jahre alt, das Leben genommen hatte. Alt, krank und allein in der Welt musste sie noch den Weg nach Theresienstadt antreten: Wer wollte so gestorben sein? So entwürdigt, gequält, so eiskalt vernichtet? Was Menschen anderen Menschen antaten, was jüdische Menschen erleiden mussten - hier streift einen eine Ahnung. Doris Tucholskys Grab übrigens ist leer. Der Stein markiert es nur symbolisch.
Obwohl jüdisches Recht die Einäscherung ablehnt, erlaubte bereits 1909 eine neue Beerdigungs- und Friedhofsordnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Feuerbestattungen. Auch dies eine Folge der Assimilierung. Dennoch halten auch heute die meisten Juden an der Erdbestattung fest, im Glauben an die Auferstehung. Insofern war die »Beseitigung« der Leichen in den Krematorien der Konzentrationslager eine besondere Infamie: Manchmal erhielten ihre Angehörigen die Urnen zugesandt, per Nachnahme. So wurde 1941 ein Urnenfeld mit Aschen aus den Konzentrationslagern angelegt. In den 70er Jahren gestaltete man dieses Feld zur Wiese um. Nun müsste es umfriedet werden ... Gepflegt das Grab von Herbert Baum, der mit seiner Frau Marianne 1939 eine Widerstandsgruppe gegründet hatte und 1942 im Polizeigefängnis am Alexanderplatz erhängt wurde. Viele kleine Steine liegen an der Gedanktafel für ihn und die anderen ermordeten Mitglieder seiner Gruppe - viele Menschen suchen diesen Ort auf. Auch frische Blumen schmücken ihn.
Auf den jüngeren Friedhofsfeldern ist Blumenschmuck keine Seltenheit mehr. Und immer öfter stehen auch russische Namen auf den Grabsteinen. Um Efim Wulfowitsch, so liest man, trauern Frau, Kinder und Enkel. 65 Jahre alt ist Efim Wulfowitsch geworden. Den größten Teil seines Lebens hat er in fernem Lande verbracht, jetzt liegt er hier in Deutschland. Ob es ihm hier gefallen hat?
Während das Feld, auf dem sich das Grab von Efim Wulfowitsch befindet, seine Vegetation erst entfalten muss, wurde diese auf dem Feld P 4 gebändigt. Mit Mitteln aus Benefizkonzerten, die der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker initiierte, konnte es im Sommer 1993 restauriert werden. Das heißt: Umgestürzte Grabsteine wurden aufgerichtet, die kleinen Wege zwischen den efeubewachsenen Grabhügeln freigelegt. So könnten dereinst wieder alle Felder aussehen. Die alten Bäume könnten beschnitten, das holprige Pflaster in den Alleen erneuert, die verrotteten Bänke instandgesetzt, die Erbbegräbnisse und Mausoleen endlich restauriert werden ...
Ja, der Jüdische Friedhof in Weißensee gehört zum kulturellen Erbe der Welt. Dieses Erbe auszuschlagen, kann sie ...
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