Rote Kristallografin

  • Reinhard Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
»Grandmother wins Nobel Prize!«, titelte im Oktober 1964 die englische »Daily Mail«. Die Oma, der diese Ehrung zuteil wurde, hieß Dorothy Hodgkin Crowfoot. Sie war die dritte Frau, die den Nobelpreis für Chemie erhielt - nach Marie Curie und Irène Joliot-Curie. Dorothy wurde 1910 als älteste von vier Töchtern des britischen Archäologen und Kolonialbeamten John Winter Crowfoot in Kairo geboren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kamen die Mädchen nach England. Hier wuchsen sie unter der Obhut der Großmutter und eines naturbegeisterten Kindermädchens heran. Dorothy durfte auch am sonst den Jungen vorbehaltenen Chemieunterricht teilnehmen. Zu Hause richtete sich Dorothy auf dem Dachboden ein eigenes Labor ein. Besonders interessierten sie Kristalle. Aus Büchern erfuhr Dorothy Crowfoot frühzeitig von der Röntgenstrukturanalyse. Mit diesem Verfahren ist es möglich, über die Beugung von Röntgenstrahlen am Kristallgitter auf die Struktur von Kristallen zu schließen. Ab 1928 studierte Dorothy als eine von wenigen jungen Frauen Chemie und Kristallografie am Somerville-College in Oxford. Nach Abschluss ihrer Ausbildung forschte sie in Cambridge unter Leitung von John Bernal (1901-1971), einem aktiven Mitglied der KP Großbritanniens. Hier erarbeitete sie die wichtigsten Grundlagen für die Röntgenanalyse bedeutsamer Substanzen wie Penicillin und Vitamin B12. Mit 26 Jahren kehrte Dorothy Crowfoot nach Oxford zurück, unterrichtete an »ihrem« College und schloss sich der Insulinforschung an. Ihr gelangen zum ersten Mal in der Geschichte Interferenzbilder von Insulin-Kristallen. 1937 promovierte die Chemikerin und heiratete den Historiker und Kommunisten Thomas H. Hodgkin. In einer auf Männer ausgerichteten Wissenschaft kämpfte sie für die Rechte ihrer Kolleginnen: 1938 nach der Geburt ihres ältesten Sohnes erhielt sie als erste Frau in Oxford Mutterschaftsurlaub. Bei ihrer zweiten Schwangerschaft 1944 gab es bereits für alle werdenden Mütter drei Monate bezahlten Urlaub. Insgesamt bekam sie zwei Söhne und eine Tochter. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes erkrankte sie an entzündlichem Gelenkrheuma. Trotz der durch die Krankheit stark verkrüppelter Finger entwickelte sich Dorothy Hodgkin zu einem der besten Kristallografen der Welt. Da sie die kleinen Schalter der Röntgenapparate nicht mehr greifen konnte, ließ sie große Hebel einbauen. Eine Röntgenstrukturaufnahme dauerte damals 24 Stunden. Die anschließende Strukturberechnung - noch ohne Computer - war langwierig und schwierig. Für die Analyse komplexer Proteine musste man erst auf die Entwicklung der Rechentechnik warten. 1946 hatte Dorothy Hodgkin nach vier Jahren die Struktur von Penicillin entschlüsselt. Als neue Herausforderung erforschte sie das komplexe Molekül Vitamin B12 (in der Vignette rechts) und präsentierte 1955 seine Struktur. Im Folgejahr erhielt Dorothy Hodgkin eine Professur in Oxford und 1964 für ihre Forschungsergebnisse den Nobelpreis. Erst 1969 konnte sie jedoch die Struktur des Insulins veröffentlichen - nach über 35 Jahren Arbeit! Neben ihrer Forschung und Lehre engagierte sie sich leidenschaftlich in der Friedensbewegung. Sie war Mitbegründerin und Präsidentin der »Pugwash-Bewegung«. 1987 erhielt Dorothy Hodgkin dafür in Moskau den Lenin-Friedenspreis. 1944 unterrichtete die »Rote Kristallografin« übrigens eine 19-jährige, ziemlich konservative Chemie-Studentin: Miss Margaret Hilde Roberts, die spätere »Eiserne Lady« Maggie Thatcher. Was an den Bildungsweg e...

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