Phantom Fachkräftemangel

Tatsächlich klemmt es derzeit bei der Bildung, bei der Qualifizierung und bei den Löhnen

  • Albert Hilde
  • Lesedauer: 4 Min.
Es gibt viel mehr Arbeitslose als freie Stellen. Es gibt Lehrlinge, die nicht übernommen werden. Wieso finden viele Unternehmer angeblich keine geeigneten Mitarbeiter?

Der Begriff Fachkräftemangel ist nicht nur im Land Brandenburg in aller Munde, und dennoch mehr als diffus. Kaum einmal wird gefragt, was mit diesem Begriff genau gemeint ist. Noch weniger wird hinterfragt, ob es überhaupt einen Fachkräftemangel gibt? Als ebenso unbewiesene Behauptung könnte man entgegen halten: es gibt keinen Fachkräftemangel in Brandenburg, sondern ein Defizit an zukunftsorientierter Arbeits-, Bildungs- und Qualifizierungspolitik sowie einen Mangel an attraktiven Arbeitsbedingungen und anständiger Entlohnung. Folgen wir also dem vernünftigen pädagogischen Prinzip: »Wer nicht fragt, bleibt dumm!«

Weshalb bleiben die Arbeitskräftepotenziale von den im Januar 2014 offiziell gemeldeten 178 958 so genannten unterbeschäftigten Brandenburgern - darunter befinden sich 142 304 Arbeitslose - ungenutzt? Kann dies daran liegen, dass Arbeitsagentur und Jobcenter hier im Jahr 2007 noch 2832 Euro je Arbeitslosem für Ermessungsleistungen der aktiven Arbeitsförderung einsetzten, im Jahr 2012 aber nur noch 1983 Euro? Kann dies auch darauf zurückzuführen sein, dass die dem Land Brandenburg im Zeitraum 2007 bis 2013 für Arbeitsförderung, Qualifizierung etc. zur Verfügung stehenden Mittel des Europäischen Sozialfonds mit Stand zum 30. September 2013 erst zu 82 Prozent ausgeschöpft waren, das heißt 112 Millionen Euro ungenutzt geblieben waren?

Wieso hatten 2012 nur 61,8 Prozent der 55 bis 64 Jahre alten Brandenburger einen Arbeitsplatz, obwohl die Mehrzahl dieser Personengruppe einer bezahlten Beschäftigung nachgehen möchte und durch die unterdurchschnittliche Integration dieser Altersgruppe in den Arbeitsmarkt ein Potenzial von mindestens 30 000 Menschen verschenkt wird? Kann dies auch darauf zurückzuführen sein, dass die Landesregierung die früheren Arbeitsförderprogramme zugunsten älterer und längerfristig Arbeitsloser wie beispielsweise »Akademie 50plus« oder »Kurssystem contra Langzeitarbeitslosigkeit« inzwischen eingestellt hat? Weshalb wird von Fachkräftemangel gesprochen, wenn im Jahresdurchschnitt 2013 über alle Berufe gesehen in Brandenburg immerhin 822 gemeldete Arbeitslose auf 100 gemeldete freie Stellen kommen und in keinem der neun ausgewiesenen Berufsbereiche diese Relation geringer als 399 zu 100 ist (Berufsbereich Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung)? Kann es sein, dass die in den vergangenen Jahren deutlich reduzierten Mittel für aktive Arbeitsförderung die bedarfsgerechte Qualifizierung von Arbeitslosen nur noch eingeschränkt möglich machen?

Wie kann von Fachkräftemangel die Rede sein, wenn beispielsweise nach Erklärungen des Präsidenten der Landespolizeifachschule die Brandenburger Polizei bei einem aktuellen Einstellungskorridor von 285 Stellen pro Jahr zuletzt kontinuierlich etwa 4000 Bewerbungen erhalten hat? Spricht es für einen Fachkräftemangel, wenn nach Auskunft des Geschäftsführers der Ende 2013 eröffneten Saturn-Filiale in Potsdam für die 33 zu besetzenden Arbeitsstellen 400 Bewerbungen eingingen? Kann es möglich sein, dass sich Arbeitgeber in den vergangenen 20 Jahren daran gewöhnt haben, aus einer Vielzahl von Bewerbern quasi »olympiareife« Mitarbeiter zu rekrutieren und es parallel dazu verlernten, dass sich auch noch nicht vollständig geeignete Arbeitsuchende mittels Einarbeitung und Qualifizierung zu leistungsfähigen Fachkräften heranbilden lassen?

Ist es nicht sogar zynisch, von Fachkräftemangel zu sprechen, wenn im Jahr 2013 folgende Unternehmen - um nur einige zu nennen - Schließungen, Massenentlassungen oder Standortverlagerungen vornehmen mussten: Aleo Solar in Prenzlau, Conergy, First Solar und getgoods in Frankfurt (Oder), Francotyp-Postalia in Birkenwerder, HatiCon in Pinnow, Mounting Systems in Rangsdorf, nextira one in Teltow, RMG Gaselan in Fürstenwalde, SIAG in Finsterwalde, TE Connectivity in Falkenberg sowie Tönnies Foodservice in Brandenburg/Havel.

Kann der Fachkräftebedarf in Brandenburg vielleicht doch nicht so hoch sein, weshalb etwa die Arbeitsagentur Frankfurt (Oder) die vielfach gut Qualifizierten, aber nunmehr Arbeitslosen sinnvollerweise aufforderte, auch überregionale Jobangebote in den Blick zu nehmen?

Aus welchen Gründen pendelten im Juni 2013 immerhin 189 533 sozialversicherungspflichtige Brandenburger nach Berlin zur Arbeit, umgekehrt aber nur 77 773 Berliner in die Mark? Kann dies auch daran liegen, dass im dritten Quartal 2013 ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer in Berlin einen durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst von 3342 Euro erzielte, in Brandenburg hingegen nur 2804 Euro?

Werden wir künftig so viele Akademikerarbeitsplätze in Brandenburg haben, dass es bildungs-, arbeits- und wirtschaftspolitisch vernünftig ist, wenn inzwischen mehr als die Hälfte aller Schüler der Klassenstufe 7 eine Schule besucht, die zum Abitur führt? Kann es sein, dass damit einerseits die geringen Bewerberzahlen auf Ausbildungsplätze, andererseits die hohen Studienabbrecherquoten zusammenhängen? Warum werden von den märkischen Betrieben jedes Jahr nur zwischen 50 und 60 Prozent der erfolgreich ausgebildeten Nachwuchskräfte übernommen? Kann dies daran liegen, dass Lehrlinge vielfach als billige Arbeitskräfte genutzt werden und überhaupt nicht daran gedacht ist, sie nach Beendigung der Berufsausbildung zu halten?

Welchen Eindruck müssen die gebetsmühlenartigen Warnungen der Regierung vor einem drohenden Fachkräftemangel bei in- und ausländischen Unternehmen sowie bei potenziellen Investoren hinterlassen? Kann es sein, dass dies die denkbar schlechteste Standortwerbung für das Bundesland ist?

Es ließen sich viele weitere Fragen stellen, um die Geheimnisse des sogenannten Fachkräftemangels zu ergründen. Viel wichtiger wäre es jedoch, aus den Antworten die richtigen Schlüsse zu ziehen.

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