Gestalten im Kiez
An der Osloer Straße stehe ich an der Ampel neben einem Mann, der ein Huhn auf dem Arm trägt. Der Herr wirkt etwas zerzaust, vielleicht gar verwirrt, aber er nimmt die Fürsorgepflicht für das Geflügel ernst. Denn es ist nicht gefroren, gerupft oder sonstwie zubereitet, es lebt. Wenige Zentimeter entfernt brausen Autos und LKW vorbei, aber er murmelt beruhigend auf das Huhn ein, das den Kopf an seinen Hals schmiegt. Zuerst vermute ich, er würde es direkt zum Kochtopf führen, aber diese zärtliche Anwandlung macht mich skeptisch. Er muss es auch nicht wirklich festhalten, es sitzt auf seinem Unterarm.
Der Wedding schaut kurz rüber, dann wird der Kauz mit dem Huhn von der Anonymität der Großstadt verschluckt. Aber er ist hier nicht allein, er hat ein Huhn, und mit dem Huhn hat er auch etwas Dörfliches in der Stadt, sollte er das vermissen. Es wirkt auch nicht so, als bringe er das Tier sicher in seinen Garten, den Zoo oder seinen Hühnerhof, sondern in eine dunkle Hinterhauswohnung ums Eck. Dort setzt er es in der Küche ab, stärkt sich mit einer Scheibe Vollkornbrot und wischt die Krümel vom Schneidebrett runter auf den Boden, so malt es meine Phantasie aus. Das Huhn pickt erwartungsgemäß alles auf und trottet dann rüber ins Wohnzimmer, vielleicht setzt es sich neben ihn, wenn er Fernsehen guckt.
Ich fahre anderthalb Stunden mit der Straßenbahn herum, und anderthalb Stunden später ist beinahe alles vergessen. Wahrnehmung ist selektiv. Sicher wurden ein paar Vermerke in die passenden Schubladen sortiert, dass es hier an der Ecke einen neuen Laden gibt, dort eine neue Baustelle und hier einen neuen Anstrich. Die Gesichter und Situationen hingegen sind längst gelöscht, morgen dann schon sind sie ganz verschwunden. Aber eine zweite Kiezgestalt bleibt mir heute in Erinnerung: die Rentnerin an der Osloer Straße auf dem Rückweg.
Mitten im Feierabendverkehr hält ihre volle Straßenbahn, die ich und die vielen anderen Heimkehrer betreten wollen. Sie steht vorn an der Tür und stellt ihren Rollator, einen Frontlader-Hackenporsche sozusagen, blitzschnell auf den Straßenbahnsteig. Sie ist sehr klein und beginnt aber plötzlich ihre Gehhilfe mit so energischen, schnellen und sicheren Schritten die ganze Länge des Wagens Richtung U-Bahn voranzuschieben, dass sie kurz vor den überall herausquellenden Menschen als erste aus dem ganzen Feierabendpulk herausflutscht. Ob sie den Rollator dann unter den Arm geklemmt hat und die Stufen heruntergeflitzt ist, konnte ich nicht mehr sehen. Aber da das, was von allem am nächsten Tag bleibt, ohnehin der Phantasie gehört, glaube ich fast schon, ich hätte es noch gesehen.
Zuhause hole ich mir eine Currywurst auf der Mittelpromenade gegen die allgemeine Entkräftung. Neben mir auf einer Bank sitzen zwei Herren meines Alters. Sie unterhalten sich:
»Weeßte doch, ick interessier mir für janüscht.«
»Naja, hat jeder seine Macken.«
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