Zweimal auf der Reise

»baba oder mein geraubtes Leben« im Heimathafen Neukölln

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei den Studioinszenierungen im Heimathafen Neukölln lässt Nicole Oder die Schauspieler im Raum. Sie ziehen sich in der ersten Reihe ungeniert um, so als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. So verwandelt sich Inka Löwendorf mit wenigen Utensilien vom Kumpel in eine Alte. Und was für eine Alte sie dann gibt. Die Frau versteht ihr Schauspielerhandwerk.

Sich um die Alte zu kümmern, das ist Sinans Arbeit in dem Stück »baba oder mein geraubtes Leben«, das die Regisseurin nach einer wahren Geschichte schrieb, die sich zwischen, oder besser in Bagdad, Darmstadt und Dubai abspielte. Es ist die Lebensgeschichte von Sinan al-Kuri, der für diese Bühne 2012 das Stück »Kriegsbraut« schrieb und mitspielte. Im Programmheft dankt ihm das Produktionsteam u.a. für die Geschichte mit den Worten »... wir haben sie mit Samthandschuhen ausgeschlachtet! Lass uns Freunde bleiben.« Auch seine Tante Brunhild, die seine Adoptivmutter wurde, verschloss sich den Recherchen nicht.

Die Geschichte ist dermaßen berührend, dass sie als dritter Teil der Neukölln-Trilogie über die ersten zwei schon erfolgreichen Inszenierungen »Arabboy« (2009) und »Arabqueen« (2010) hinauswächst. Im Heimathafen wird der Zuschauer oft in Berührung mit fremden Kulturen gebracht. Nicole Oder versteht es jedoch besonders gut, sie nachvollziehbar umzusetzen. Auch, weil sie ihre Stücke immer zusammen mit einem engagierten Produktionsteam erarbeitet.

Sinan, gespielt von Burak Yigit, wuchs in Darmstadt auf und lebt mittlerweile in einer Neuköllner WG. Der junge Mann - seelisch angekratzt, seit er von seiner Adoption weiß - hat mit seiner Freundin ein Kind gezeugt. Mit dem Gedanken, dass er Vater werden soll, will er wissen, wer sein Vater, sein »baba« ist und wo seine Wurzeln sind.

In Bagdad wurde schon vor seiner Geburt in der Großfamilie beschlossen, dass die kinderlose deutsche Tante zusammen mit ihrem irakischen Mann ihn aufziehen sollten. Eine Szene zeigt die Erschöpfung der überlasteten leiblichen, als Lehrerin arbeitenden Mutter mit ihrem vierten Kind, während ihr Mann in Kriegsgefangenschaft festgehalten wird. Die Familie will ihr Mühe abnehmen und dem Kind die Chance auf ein schönes Leben geben. Was zunächst bei Brunhilds Schilderungen der Abreise nach Deutschland wie ein Kindesraub anmutet, war also keineswegs einer. Das Verpflanzen aus einer Kultur in eine andere wurde es allerdings.

Auf der Basis von geschickt kombinierten Rückblicken und Positionen der Handelnden lässt die Regisseurin Sinan zu seiner inzwischen in Dubai lebenden Familie reisen. Ein vorher als solcher nicht erkennbarer, zusammengerollt als Schlaf- und Sitzgelegenheit dienender riesiger alter Orientteppich wird entrollt, teilweise wie eine künstliche Wand als Dubai-Kulisse hochgezogen. Ein in ihn gerissenes Loch wirkt wie ein großer Durchschuss. Etwas wurde herausgerissen. Der Anblick erzeugt in den Köpfen der Zuschauer wahrscheinlich unterschiedlichste Bilder.

Zwei Brüder Sinans erwarten ihn am Flughafen. Tanya Erartsin und Sascha Ö. Soydan spielen sie herrlich burschikos und - wie Inka Löwendorf - andere Rollen, sich jeweils rasch verwandelnd. Nur Yigit bleibt als Sinan in seiner Rolle, schindet sich körperlich bei seelischen Wechselbädern.

Herzlich nimmt die Familie Sinan in Dubai auf. Wunderbar gelungen ist die Szene der Begegnung mit der leiblichen Mutter. Wie sie ihn betastet, ihn streichelt, an ihm schnüffelt ... Auch der Kauf eines landestypischen Kleidungsstücks für den angekommenen Sohn ist kurz, aber stark gemacht. Und dann gibt es natürlich ein großes Fest der Familie, für das das Publikum gleich mit parfümiert wird. Geschickt eingesetzte Videofilme ergänzen das Spiel, das mit Sinans Heimkehr nach Berlin endet. Das Erlebte hat ihn aufgewühlt. Umso heftiger trifft ihn zu Hause eine Nachricht.

Das vom Hauptstadt-Kulturfonds geförderte 75-minütige Stück wird wie seine Vorgänger sein Publikum finden. Die Begeisterung, mit der es entstand, springt über.

Nächste Vorstellungen: 18., 22. 3., 10., 11. 4., 19.30 Uhr, Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, Neukölln, Karten-Tel.: (030) 61 10 13 13, www.heimathafen-neukoelln.de

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