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Folter im Kopf

Migräne ist alles andere als eine Krankheit von Sensibelchen

  • Henriette Palm
  • Lesedauer: 4 Min.
Akupunktur, Bewegung, Nervenstimulation, Schmerzmedikamente oder Pfefferminzöl - die Liste der Mittel gegen Migräne ist lang und die Krankheit schwer zu diagnostizieren und wenig erforscht.

Migräne ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation die teuerste Erkrankung des Nervensystems. 14 Prozent der Deutschen leiden jährlich mindestens einmal daran. Die Arznei- und Behandlungskosten belaufen sich jährlich auf rund 500 Millionen Euro. Diagnostiziert wird die Krankheit bei Frauen etwa drei Mal häufiger als bei Männern, wobei Fachleute vor allem bei Männern mit einer hohen Dunkelziffer rechnen. Die Betroffenen leiden nicht nur unter höllischen Schmerzen, sondern auch unter Vorurteilen, wonach »Sensibelchen« Migräne bekommen oder »man seine Migräne nimmt«, wenn es an Arbeitslust fehlt. Dabei gehe es schließlich »bloß« um Kopfschmerzen. Doch genau das ist falsch.

Anders als der normale dumpfe Spannungskopfschmerz im Scheitel- und Nackenbereich ist Migräne eine periodisch wiederkehrende Erkrankung, die anfallartig und einseitig auftritt. Sie kann von zusätzlichen Symptomen wie Seh-, Gefühls- und/oder Sprachstörungen begleitet sein. Der Fachmann nennt das »Migräne mit Aura«. Geräusch- und/oder Lichtempfindlichkeit treten dagegen auch bei der Migräne ohne Aura auf. Da die Symptome von Patient zu Patient sehr unterschiedlich ausfallen und zudem individuell verschieden wahrgenommen werden, ist eine Diagnose nicht einfach. Zum einen geht es um die Abgrenzung vom Spannungskopfschmerz, zum anderen um die von dem seltener auftretenden Clusterkopfschmerz, der wie die Migräne anfallartig beginnt, neurologisch jedoch eine völlig andere Erkrankung darstellt. Mehrere Attacken können aufeinander folgen, wobei das Schmerzzentrum sich häufig verlagert und die Schmerzen - anders als bei Migräne - im Liegen zunehmen. Gängige Schmerzmittel sind gegen Clusterkopfschmerz wirkungslos. Alle drei Arten von Kopfschmerzen gehören zu den sogenannten primären Erkrankungen. Sie werden nicht durch eine andere Erkrankung wie einen Tumor oder einer Entzündung ausgelöst.

Patientin Petra W. wurde wegen einer vermuteten Trigeminusneuralgie wochenlang mit starken Medikamenten behandelt. Erst als sie nach wiederholtem Auftreten der extrem heftigen Schmerzen die Notfallambulanz der Charité aufsuchte, wurde der Clusterkopfschmerz diagnostiziert und binnen einer halben Stunde war die Patientin durch eine Sauerstofftherapie schmerzfrei. Inzwischen hat ihre Kasse ihr ein Sauerstoffgerät zur Verfügung gestellt, mit dem sie bei erneutem Auftreten der Krankheit - meist im Frühjahr und Herbst - unmittelbar reagieren kann. »Irgendwann wäre ich vor Schmerzen vor ein Auto gelaufen oder aus dem Fenster gesprungen«, sagt sie; man sei während der aufeinander folgenden Attacken, die durchaus mehrere Tage anhalten könnten, nicht man selbst. Vielleicht erklärt ja das einige Werke von Franz Kafka, Salvatore Dali und Vincent van Gogh sowie manche Visionen der Hildegard von Bingen, die alle an Migräne bzw. Clusterkopfschmerz litten.

Für eine Volkskrankheit ist die Migräne wenig erforscht. Es existieren viele Verdachtsmomente und wenig gesicherte Erkenntnisse über tatsächliche Ursachen. Zahlreiche Studien mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen verwirren Patienten, die im Internet Rat suchen. Einen großen Fortschritt bedeutete im vergangenen Jahr die weltweit bisher umfassendste Migränestudie mit 100 000 untersuchten Patienten und Kontrollpersonen. Ein internationales Forscherteam identifizierte 12 Regionen im Erbgut von Migränepatienten, die für das Krankheitsrisiko mitverantwortlich sind. Nun kommt es darauf an herauszufinden, welche molekularen Mechanismen dieser genetischen Veranlagung zugrunde liegen. Nur so ließen sich neue und gezieltere Behandlungsmaßnahmen entwickeln, sagt Dr. Christian Kubisch von der Universität Ulm.

Bis dahin wird empirisch geforscht, welche Faktoren als Auslöser von Migräne infrage kommen. Patienten werden aufgefordert, ein Kopfschmerztagebuch zu führen, um Schlüsselreize für einen Anfall herauszufinden. Der Menstruationszyklus, Witterungsschwankungen und bestimmte Nahrungsmittel, Gerüche, Ernährung mit mehr oder weniger Kohlenhydraten sowie Koffein, Flüssigkeitsmangel und Alkohol wurden als Trigger identifiziert. Als Patienten im Rahmen einer dänischen Studie aber systematisch mit diesen Triggern provoziert wurden, kam es nur bei sehr wenigen zu einer Migräneattacke. Das lässt Zweifel an den Triggern aufkommen. Vollständig entlastet ist bereits die Schokolade; Heißhunger auf sie ist nicht Auslöser sondern Vorbote einer Migräneattacke, wie nachgewiesen wurde.

Therapiert wird Migräne nicht mehr durch Auflegen eines lebendigen Zitterrochens wie bei den alten Ägyptern oder mit opium- und essig-getränkten Tüchern wie im 13. Jahrhundert. Heute werden Schmerzmittel sowie spezifische Migränemittel aus den Gruppen der Triptane bevorzugt. Für chronische Migränepatienten kommt eine Occipitalis-Nervenstimulation durch einen implantierten Neurostimulator in Betracht. Bei den meisten seiner Patienten nahmen Häufigkeit und Schwere der Attacken nach der Operation ab, versichert der Neurochirurg Prof. Jan Vesper.

Tipps aus Foren - von Pfefferminzöleinreibungen an Stirn und Schläfen bis zu autogenem Training - sind nicht ausreichend evaluiert, können aber auch nicht schaden. Das gleiche gilt für die zur Prophylaxe empfohlenen Entspannungsverfahren, für Akupunktur, viel Bewegung an frischer Luft und regelmäßigen Schlaf.

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