Der Traum von Freiheit erfüllt sich dezentral

Portugals Hoffnungen liegen auf dem Land

  • Leila Dregger
  • Lesedauer: 7 Min.
In Portugals ländlichen Gebieten sprießen Ansätze, die zeigen, wie eine alternative, sozial- und umweltverträgliche Entwicklung aussehen könnte.

»Die Zeit ist reif für eine neue Agrarreform.« Cláudio Percheiro, 62, früherer kommunistische Bürgermeister der Kleinstadt Odemira im Süden Portugals, kennt das Leben der Landbewohner sowohl vor der Revolution als auch in der heutigen Krise. Vor allem hier im Alentejo hat sich die Situation aufs Neue zugespitzt: Weite Teile der Region liegen brach - oder wurden an internationale Agrarkonzerne veräußert, die im großen Stil Bewässerungsoliven, Gemüse unter Glas oder Genmais in Monokultur anpflanzen. Bewässert werden sie durch die großen Staudämme: Geplant noch während der Diktatur, umgesetzt in der EU, durchzieht ein Kanalsystem die ganze Region. Ernte- und Arbeitskräfte kommen aus Bulgarien und Thailand, die Erträge werden exportiert, der Profit geht ins Ausland, der Umweltschaden bleibt im Land. Besonders bitter ist, dass es meistens die Erben der damals entschädigten Großgrundbesitzer waren, die die Region ausverkauften. »Das Land muss wieder denen gehören, die darauf arbeiten. Gerade heute, wo es wieder Hunger in Portugal gibt«, schimpft Percheiro. Einige Ansätze zeigen, wie das gehen könnte.

Auf Freixo do Meio bei Montemor-o-novo im Alentejo scheint die Zeit stehengeblieben. Es hämmert aus der Schmiede. Hühner und Gänse laufen über den Hof. Der Gutsherr grüßt morgens seine Mitarbeiter reihum mit Handschlag. Vor der Nelkenrevolution gehörten die Cunhals zur Oligarchie der Großgrundbesitzer. 1992, nach Rücknahme der Landreform, erhielt Alfredo Cunhal, heute 48 und Enkel des früheren Besitzers, den Hof zurück. Im Gegensatz zu anderen Landrückgaben geschah sie hier ohne Gewalt. Wie sein Großvater, der als relativ gerecht galt, versuchte Cunhal von Anfang an, die Träger der Kooperative an der Hofführung zu beteiligen. Heute ist er Vorsitzender der Stiftung, die den Biohof betreibt. Der Tag der Revolution ist sein Geburtstag. Jedes Jahr am 25. April versammeln sich die Alternativszene des Landes und Nachbarbauern auf seinem Hof - und Alfredo erklärt sein durchaus revolutionäres Konzept.

»In Bezug auf die Natur und die Landwirtschaft verfolgten Diktatur, Sozialismus oder Kapitalismus dieselbe Strategie: Zentralisierung und Spezialisierung. Das ist zerstörerisch für die Natur und fatal für die ländliche Entwicklung.«

Seine Strategie heißt Vielfalt. Er setzt dabei auf eine modernisierte Form der traditionellen Montado-Bewirtschaftung. »Montado ist mehr als Korkeichen und Schweine«, erläutert Cunhal. »Je mehr Vielfalt, desto mehr Synergien sind möglich.«

Das bedeutet, dass auf seinem Hof der Abfall des einen Bereiches zum Dünger oder Futter des anderen werden kann. So wird Oliventrester, auf spezialisierten Höfen ein Müllproblem, hier fermentiert und an Schweine verfüttert, Obstbaumschnitt wird den Ziegen vorgeworfen. Völlig entgegen dem Trend produziert Freixo do Meio rund 300 Produkte in jeweils kleinen Mengen - von Biowein über solargetrocknete Zucchini, Brot, verschiedene Öle bis zu Biofleisch und Wurst.

Ökonomisch brachte diese Strategie ihn an den Rand der Pleite, denn in den modernen Vertriebsstrukturen lohnt Vielfalt sich nicht. Während Freixo als größter Biohof des Landes bekannt wurde, zog sich die Familie aus dem riskanten Geschäft zurück. Der Hof musste sich gesundschrumpfen. Von 80 Arbeitern sind 16 verblieben, weitere sieben sind Subunternehmer. Langsam geht es aufwärts.

»Früher wurden die Produkte in den Handwerksbetrieben der Dörfer verarbeitet. Heute müssen Bauern direkt an die Industrie liefern, was sich nie auszahlt.« Cunhal will die Dorfgemeinschaft wiederbeleben, damit die Produkte gleich am Ort verarbeitet und vermarktet werden können. »Durch Dezentralisierung bleibt der Gewinn in der Region«, meint er.

Auf dem Hof arbeiten heute eine selbstständige Bäckerei, eine Schmiede, eine Ölmühle, ein Verpackungsbetrieb und ein Hofladen. Sie bilden eine Art Kooperative neuen Typs. Ein Teil des Hofes wurde an Kleinbauern verpachtet. Einer von ihnen, Carlos Simões, erläutert die ungewöhnliche Geschäftsbeziehung: »Für die elf Hektar Obstbau zahle ich keine Pacht und behalte alle Erträge. Dafür fällt das Land nach 15 Jahren wieder an den Eigentümer zurück - inklusive der Bodenverbesserung und der neu gepflanzten Bäume. Das ist perfekt, denn dann will ich mich zur Ruhe setzen.«

Diese Vereinbarung, die beiden Seiten dient, prägt die neue Gemeinschaft, die auf Freixo do Meio entsteht. Sie könnte ein Modell werden für den Alentejo.

Fährt man dort übers Land, kehrt man in abgelegenen Dörfern ein, spricht mit den einfachen Menschen und teilt ihr Brot und ihre Gedanken, dann stellt man fest: Etwas in den Menschen dieser Region ist unberührt geblieben von den wechselnden Herrschaftsansprüchen - einschließlich der heutigen Anforderungen der Globalisierung. Es gibt eine geradezu trotzige Verbundenheit mit dem Land, das ihnen verblieben ist, gegenseitige Hilfe in den Dörfern, schweigende Nicht-Teilnahme an den Gepflogenheiten und Geschwindigkeitsvorstellungen der globalisierten Welt und oft feste Entschlossenheit zur Nicht-Kooperation mit wirtschaftlichen Megaprojekten wie Staudämmen und Bergwerken.

Immer noch ist einer Kassiererin der Schwatz mit der Kundin wichtiger als der ungeduldige Beamte, der dahinter wartet. Immer noch gibt es in der Eckkneipe den verbotenen Selbstgebrannten aus der Garage, das Selbstgebackene der Nachbarin. Die Dorfgemeinschaft, die den Menschen in allen Zeiten half zu überleben, ist vielen auch heute noch näher als Wirtschafts- und Arbeitsplatzargumente.

Heute, wo das scheinbar siegreiche kapitalistische System Risse bekommt, gehen junge Menschen aus der Protestgeneration aufs Land, um eine Lebensperspektive außerhalb der Troika aufzubauen. Abseits der modernen Machtzentren organisieren sie in Kontakt mit den alten Dorfgemeinschaften die Regenerierung der Landschaften und die Reaktivierung der verlassenen Dörfer. Angesichts der Sparmaßnahmen und Auflagen der Troika entstehen Projekte für Nachbarschaftshilfe und moderne Subsistenz. Sie vernetzen sich, gründen alternative Kooperativen für regionale Produkte, unterlaufen mit Fantasie und Sturheit die Verbote lokaler Märkte.

In mehreren Kreisen entstanden »Land-Banken«, die Landlose an Landbesitzer vermitteln, die ihren Grund nicht mehr bewirtschaften können. Ältere Landbesitzer wie Maria Inácia Chaves aus Évora, 72, stellen Familien Land zur Verfügung, die angesichts der Arbeitslosigkeit ihre Nahrung selbst anbauen beziehungsweise sich etwas dazuverdienen wollen. »Geld müssen sie dafür nicht bezahlen. Aber wenn ich nach Hause komme, finde ich oft einen Korb mit frischem Gemüse vor der Tür.«

Im Dorf Amoreiras wurde die alternde Dorfbevölkerung, darunter Menschen, die niemals eine Schule besucht haben, zu Lehrern für Studienabgänger und Jungunternehmer, die das Dorf wieder beleben, verfallene Häuser wieder aufbauen und auf stillgelegten Anbauflächen Biogemüse anbauen - für den Vertrieb in der Region.

Auf »Ajudadas« (Vermittlung gegenseitiger Hilfe außerhalb des Geldsystems) und Vernetzungstreffen wird das global verfügbare Wissen über ökologische Heilung, dezentrale Energieautonomie, alternative Ökonomie ausgetauscht. Die Bewegung 12. März, die vor drei Jahren zur größten Demonstration in der Geschichte Portugals aufrief, gründete dazu eine Bürgerakademie, die »Academia Cidada«.

In diesem Klima gedeihen sozial-ökologische Experimente, die dieses Wissen anwenden und weiter entwickeln und so zu Ausbildungsstätten werden. Das größte unter ihnen heißt Tamera. Hier leben und arbeiten mittlerweile 170 Menschen an einem umfassenden Modell für einen angewandten Sozialismus. Sie entwickeln und verbinden dabei ökologische und soziale Lösungen und Erfahrungen für eine postkapitalistische Lebensweise, die weltweit angewendet werden können. Tamera ist eine internationale Ausbildungsstätte, durch die auch aktuelles ökologisches und soziales Wissen in die Region gelangt. Rui Braga, Mitarbeiter von Tamera: »So könnte der Alentejo das neue Silicon Valley für Autarkie und Nachhaltigkeit werden.«

Cláudio Percheiro ist davon überzeugt, dass Portugal das Zeug hat, zum Modell für eine nachkapitalistische Gesellschaft zu werden - unter einer kleinen Bedingung. »Das Volk hat keine Schuld an der Verschuldung, muss aber die Rechnung dafür zahlen. Mit dieser Last wird uns kein Neuanfang gelingen, denn die Sparmaßnahmen ersticken alle neuen Ansätze. Es wäre für alle das Beste, Portugal die Schulden zu erlassen.«

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