»Ich bin Du, nur anders«

Der sensible Blick - zwei Fotografen zeigen Berliner im gesellschaftlichen Abseits

  • Matthias Busse
  • Lesedauer: 2 Min.
Bestenfalls gelten sie als schrille Vögel: die Alt-Punks, Transvestiten, Bettler, Taubenomas oder verrückt gekleideten Selbstdarsteller wie Grossi mit der Schallplatte auf seiner Schirmmütze oder die gepiercte Biobananen-Verkäuferin Netti. Oft werden sie aber lediglich als störende Außenseiter empfunden. Flüchtige Begegnungen hatte wohl schon jeder mit ihnen: auf der Straße, in der U-Bahn oder in Parks. Zwei junge Berliner Fotografen beschäftigten sich jedoch intensiv mit jedem Einzelnen von ihnen, ehe sie auf ihre Auslöser drückten. »Wir wollten keine Schnappschüsse«, sagt Benjamin Rennicke, der sich zusammen mit Simon Bürgel auf Pirsch durch den Großstadtdschungel begab, um zwischen Marzahn und Steglitz exotisch anmutende Typen aufzuspüren. Aus etwa 500 Bildern trafen sie eine Auswahl, die sie nun im 5. Stock des Kunsthauses Tacheles ausstellen. Ihren großformatigen Bildern sieht man an, dass die Fotografen das Vertrauen der Portraitierten genossen haben. Nie stellen die beiden Künstler eine Person bloß oder ergötzen sich an ihren Schrullen. Selbst die Alte mit ihrer faustischen Gesichtstätowierung und ihren aus der Lederjacke quellenden bloßen Brüsten wirkt nicht abstoßend. Ihre Pose und Aufmachung wird als Fassade entlarvt, hinter der sich eine interessante Lebensgeschichte und ungestillte Sehnsüchte verbergen. »Ich bin Du, nur anders« ist nicht nur der Titel dieser Menschenschau, sondern auch das Motto des Künstlerduos. »Diese Vielfalt stellt für uns eine Bereicherung dar, sofern wir uns nicht vor ihr verschließen«, schreiben sie im Text zur Ausstellung. Verdienst der beiden ist es, die stille Individualität von Menschen zu zeigen. Das Anderssein tritt dabei zurück, auch weil die Fotos schwarz-weiß sind. So lenken weder die bunte Aufmachung der Menschen noch ihr grauer Schmutz davon ab, bis zu ihrem Inneren vorzudringen. Selbst an lichtarmen U-Bahntreppen, wo sich eine innige Zwiesprache zwischen Taube und Frau abspielt oder ein junger Mann mit seinen Hunden auf Kleingeldspenden wartet, zerstören die Fotografen nicht mit einem Blitzgerät die intimen Refugien aus Schatten. Mit ihren in natürlichem Licht aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotos und ihrem sensiblen Blick für Außenseiter stehen die 23- und 25-jährigen Fotografen schon jetzt in einer Reihe mit August Sander, Helga Paris oder Bernd Lasdin. Und sie erfahren bereits eine riesige Resonanz. Nach Angaben von Rennicke und Bürgel, die selbst die Ausstellung betreuen, kommen täglich bis in die frühen Morgenstunden etwa 800 Interessierte, die sich oftmals auch die Motive als Postkarten kaufen. Bis 23. Juli, dienstags bis sonntags, 14 bis 4 Uhr. Tacheles, Oranienburger Straße 54, Mitte.
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