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Der Weg als Ziel
Rudolf von Waldenfels: »Über die Grenze«
Plötzlich riss der Schleier vor meinen Augen und ich sah die Welt, wie sie wirklich ist: ungeheuer kostbar, ungeheuer schön...« Man ist geneigt, immer wieder zu zitieren, um für dieses Büchlein zu werben, das in seinem Umfang eher ein novellistischer Reisebericht, in seinen Dimensionen aber ein tiefgründiger Text ist, der aus klarer, bildreicher Sprache lebt. Alles Geschaute, jede Ansicht, jedes Panorama, das Dunkel der Wälder, das Licht der Sonne, die Unendlichkeit der Wüste, die Sanftheit der Hügel, »der weiße, makellose Glanz der Achttausender«, die bunten Hütten, die goldenen Tempel, der Schmutz der Gassen und Hotelzimmer, Hitze und Kälte, Regengüsse und staubige Pisten, Felswände und uralte Ruinen, dunkelroter Lotus - dies alles scheint nicht in Sprache gebannt, sondern fast gebrannt zu sein. Rudolf von Waldenfels lehrt uns das Staunen im Sinne der alten Philosophen als Urgrund menschlicher Erfahrung und menschlichen Seins überhaupt.
Der Schauspieler Rudolf von Waldenfels ist für mehrere Jahre aus unserer westlichen, rationalisierten Welt verschwunden und in eine »andere Welt« abgetaucht. Er ist mit dem Fahrrad viele Hunderte von Kilometern durch Asien gefahren - wenige Zentimeter sind das nur auf unserem Globus, in Wahrheit Unendlichkeiten. Wer so fährt, dem wird der Weg zum Ziel. Die Reise beginnt im pakistanischen Quette, nahe der afghanischen Grenze, führt über den Touristenort Ziarat, die alte Gräberstadt Multan, die grüne Pandschab-Ebene und den Südhimalaja nach Nepal und dann vom thailändischen Bangkok nach Laos, zum Mekong, in die Hauptstadt Vientiane mit ihren zerfallenen Kolonialhäusern und schließlich an die Grenze nach Burma.
Viele willkürlich von Menschenhand gezogene Grenzen überfährt er, aber auch die Grenzen körperlicher und seelischer Belastbarkeit. Er durchfährt Wüstenstrecken, Pässe und enge Straßen, er durchlebt Einsamkeit und geballte Nähe, die mönchische Stille der Klöster und den Lärm der Basare, wo Menschenkörper zu »gewaltigen Klumpen verschmelzen«. Er macht Erfahrungen mit Drogen, wird durch Krankheiten an fremde Orte gefesselt und flieht dann wieder. Auch sexuelle Begegnungen sind Grenzerfahrungen, sie verschmelzen mit den Naturerlebnissen. Solche Begegnungen mit dem Blick, dem Wahrnehmen des Fremden und Verheißungsvollen in den Augen des anderen, es sind Augen-Blicke, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Manchmal scheint der Körper nur noch Auge zu sein. Die Beobachtung einer Frau durch ein Spundloch in der Bretterwand einer Absteige bekommt Symbolisches. Manchmal wird der Körper schwerelos, dann ist nur noch Stille. Himmel, Wolken, Licht - fast schon Nirvana. »... ich verschwinde«, heißt es am Ende.
Offensichtlich ist auch vieles von der Weisheit des Hinduismus in die Weltsicht des Autors eingeflossen. Aus seinen täglichen Reisenotizen hat Rudolf von Waldenfels einen »Reiseroman« gemacht, der uns wenigstens für Stunden an seinen -...
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